Die in Washington D.C. lehrende US-Historikerin Mary Elise Sarotte hat für die zehn Jahre vom Mauerfall im November 1989 bis zum Rücktritt des russischen Präsidenten Boris Jelzin im Dezember 1999 alle im Westen zugänglichen Akten zur Nato-Osterweiterung ausgewertet und außerdem zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen und Beteiligten geführt.
Herausgekommen ist eine äußerst bemerkenswerte Studie, die sich bis ganz zum Schluß mit eigenen Urteilen weitgehend zurückhält. Die Sichtweisen, Antriebe, Hoffnungen, Zwänge und Irrtümer der Beteiligten werden sichtbar. Jeder Leser, wohl auch die meisten Experten, erfährt Details, die er so noch nicht kannte. Und welche Meinung er auch immer haben mag, er kann aus diesem Buch Argumente dafür und dagegen finden:
l So wird für mich aus den Abläufen recht klar, daß der unter Präsident Bill Clinton eingeleitete forcierte Kurs der Nato-Erweiterung in den ehemaligen sowjetischen Machtbereich schon seit 1993 eine allmähliche Entfremdung in den Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen bewirkte, was sich unter anderem im Ersterben der atomaren Abrüstung äußerte.
l Auch blieben in diesem Prozeß Länder wie die Ukraine und Georgien schutzlos zurück. Die gewaltsamen Interventionen Rußlands in beiden Ländern dienten auch dem Zweck, Verhandlungen über ihren Nato-Beitritt zu unterbinden.
l Auf der anderen Seite währte der Honigmond in den russisch-westlichen Beziehungen sowieso recht kurz. Das Agieren des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, der offenbar mehr guten Willen als strategischen Weitblick besaß, war für erfahrene Politiker wie den amerikanischen Präsidenten George Bush senior und den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl ein unvermutetes Geschenk. Das so entstehende Zeitfenster für die deutsche Wiedervereinigung und die Neuordnung Europas nutzten sie beherzt aus.
l Den Zusammenbruch der Sowjetunion wollte keiner von ihnen, und mit dem erratischen und schwer alkoholabhängigen russischen Präsidenten Boris Jelzin versuchten sie so gut es ging klarzukommen. Die Befürworter und Gegner einer schnellen Nato-Erweiterung rangen im Westen um Einfluß. Als sich im Herbst 1993 mit dem von Jelzin befohlenen Sturm auf das russische Parlament und 1994/1995 mit dem ersten Tschetschenien-Krieg zeigte, wie zerbrechlich die russische Demokratie war, gewannen die Befürworter einer schnellen Nato-Erweiterung im Westen an Einfluß. Und die Stimmen von Tschechien, Polen und den baltischen Ländern, die in genau diese Richtung drängten, gewannen entsprechend an Gewicht. So kam es zu den beiden Stufen der Nato-Osterweiterung 1999 und 2004.
l Damit, daß Wladimir Putin im Jahr 2000 russischer Präsident wurde, war die Chance einer demokratischen Entwicklung des Landes zunächst vertan. Das westliche Mißtrauen gegen Rußland kehrte allmählich zurück. In den ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten, die in die Nato drängten, war es nie erstorben.
l Hätte ein anderer Kurs bei der Nato-Erweiterung und der alternative Versuch zu einer Sicherheitspartnerschaft mit Rußland dort die Demokratie gestärkt und den wachsenden Einfluß der Nationalisten und Militaristen zurückgedrängt? Das hätte so sein können, aber niemand weiß es. Und die neuen Mitglieder, die seit Mitte der neunziger Jahre in die Nato drängten, wollten verständlicherweise nicht, daß diese Frage auf ihre Kosten ausgetestet wurde.
Eindeutig ist das Forschungsergebnis von Frau Sarotte jedoch in einem Punkt: Es gab nie eine Zusage des Westens, auf eine Nato-Erweiterung grundsätzlich zu verzichten. Zwar war der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher 1989/90 immer wieder bestrebt, eine solche Zusage zu machen, und es gab dazu wohl auch gegenüber sowjetischen Stellen mündliche Ankündigungen aus dem Auswärtigen Amt. Dazu wurde aber nie etwas schriftlich fixiert. Dafür sorgte der kurze Draht zwischen Präsident Bush und Bundeskanzler Kohl. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990, der den Weg zur deutschen Einheit frei machte und das vereinigte Deutschland in der Nato beließ, wurde nur festgehalten, daß sich auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine fremden Truppen aufhalten. Die spätere Auflösung des Warschauer Paktes im März 1991 konnte dieser Vertrag schließlich auch gar nicht vorwegnehmen.
In der Summe können sich die Kritiker einer schnellen Nato-Erweiterung aus diesem Buch genauso bestätigt fühlen wie ihre Befürworter. Ich persönlich gehöre eher zu den letzteren. Der entscheidende Umschwung für Rußland wie auch für seine Beziehungen zum Westen war nämlich die Machtübernahme durch Putin im Jahr 2000. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß er zum Friedensfürst geworden wäre, wenn Polen, Tschechien und Ungarn 1999 und das Baltikum 2004 nicht der Nato beigetreten wären. Wie sich heute zeigt, ist sein ganzes Denken auf eine weitgehende Wiederherstellung des russischen Imperiums fixiert. Es ist gut, daß der Westen das Risiko eines Testlaufs auf Kosten Ostmitteleuropas nicht eingegangen ist.
Eine Gestalt der Zeitgeschichte strahlt übrigens in dem Buch in unvermutetem Glanz: Es ist der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl. Kontaktfreudig, kommunikativ und argumentationsstark übte er hinter den Kulissen in Ost und West einen ungeheuren Einfluß aus. Er mißtraute der Stabilität der Sowjetunion beziehungsweise Rußlands und wollte, in seinen Worten, die Ernte einbringen, ehe das Gewitter aufzog. Das ist dem Westen ja auch eindrucksvoll gelungen.
Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Rußland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung. Verlag C.H. Beck, München 2024, gebunden, 397 Seiten, 28 Euro