© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Erinnerungen an die Gegenwart Europas
Wiedergelesen: In seinen Memoiren „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“ versteht sich Stefan Zweig als Zeitzeuge historischer Umbrüche. Seine Beobachtungen und Einsichten weisen Parallelen zu heute auf
Regina Bärthel

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie bildet Variationen der immer gleichen Themen aus. „Alle die fahlen Rosse der Apokalypse sind durch mein Leben gestürmt, Revolution und Hungersnot, Geldentwertung und Terror, Epidemien und Emigration; ich habe die großen Massenideologien unter meinen Augen wachsen und sich ausbreiten sehen, den Faschismus in Italien, den Nationalsozialismus in Deutschland, den Bolschewismus in Rußland und vor allem jene Erzpest, den Nationalismus, der die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat“, faßt Stefan Zweig seine Zeit im Vorwort zu „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“ zusammen.

Und weiter: Wer immer durch diese Zeit ging „oder vielmehr gejagt und gehetzt wurde“, habe mehr Geschichte erlebt „als irgendeiner seiner Ahnen“. Kurz nachdem er diesen Lebensrückblick im brasilianischen Exil abgeschlossen hatte, beendete der Autor am 23. Februar 1942 sein Leben. „Nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet“, schrieb Zweig in seinem Abschiedsbrief, hätten sich seine Kräfte durch die „langen Jahre heimatlosen Wanderns“ erschöpft. Seine zweite Frau Charlotte begleitete ihn in den freiwilligen Gifttod.

Mehr Interesse an Literatur und Theater als an Politik

Seit 1939 hatte Zweig an seinen Memoiren gearbeitet, gestützt ausschließlich auf seine Erinnerungen, waren doch alle Aufzeichnungen und Briefe in Europa zurückgeblieben. Als Emigrant blickt er zurück auf seine, wie er es bezeichnet, drei Leben: die umfangreich geschilderte Kindheit und Jugend in Wien, wo er 1881 geboren wurde, der Erste Weltkrieg mit seinen Vorzeichen und Folgen sowie seine Emigration vor Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Das 19. Jahrhundert sei in seinem „liberalistischen Idealismus“ davon überzeugt gewesen, unfehlbar auf dem Weg zur „besten aller Welten“ zu sein, in der „die Grenzen von Divergenzen zwischen den Nationen und Konfessionen allmählich ins gemeinsame Humane zerfließen“ würden. 

Neben diesem unverbrüchlichen Glauben war es die Begeisterung für Literatur und Theater, die den Sohn aus einer großbürgerlichen Familie mehr als das Judentum prägte. Tatsächlich habe in seinem Freundeskreis, so gesteht der Autor selbstkritisch, während der Blütezeit der Wiener Kultur die „Monomanie des Kunstfanatismus“ jegliches Interesse an Politik überdeckt. Das Auftreten der ersten sozialistischen Massenbewegungen nahm er kaum zur Kenntnis; ein Umstand, der sich auch später mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus kaum ändert.

Denn der junge Zweig möchte seine „innere Freiheit“ verwirklichen und „Bohème leben“. Das tut er während des Studiums in Wien und Berlin, er reist nach Paris und London, Amerika, Indien und Afrika. Er fühlt sich als Kosmopolit; zugleich verstärken diese Reisen seine Liebe zu Europa, in dem Wirtschaft, Wohlstand und persönliche Freiheit weiter fortgeschritten seien als auf anderen Kontinenten.

Er fühlt sich abgestoßen von der Kriegspropaganda

Zweigs Welt ist geprägt vom optimistischen Gedanken an die Völkerverständigung, allerdings erkennt er – zumindest in der Rückschau – auch eine politische wie wirtschaftliche Gegenströmung, die nicht zuletzt von der französischen wie deutschen Waffenindustrie ausgegangen sei. In einem Kino in Tours erlebt er, wie wütend das einheimische Publikum auf Kaiser Wilhelm II. reagiert, als dieser auf der Leinwand erscheint. Mit plötzlichem Schrecken erkennt der Österreicher, „wie weit die Vergiftung durch die seit Jahren und Jahren geführte Haßpropaganda fortgeschritten sein mußte“ und wie leicht es sein könnte, „im Augenblick ernstlicher Krise die Völker hüben und drüben aufzureizen trotz allen Verständigungsversuchen, trotz unseren eigenen Bemühungen“. Und tatsächlich, was Zweig zunächst als „Morgenröte“ der zukünftigen Einheit Europas interpretiert hatte, „war in Wahrheit schon der Feuerschein des nahenden Weltenbrandes“.

Selbst als im Sommer 1914 der Schuß in Sarajewo fällt, fühlt sich Zweig wie viele andere kaum beunruhigt. Nur die Zeitungen fahren zunehmend verbale Attacken; Vorzeichen eines bald folgenden Massentaumels, der die Urinstinkte des Menschen an die Überfläche sprudeln läßt: „Wir mußten Freud recht geben, wenn er in unserer Kultur, unserer Zivilisation nur eine dünne Schicht sah, die jeden Augenblick von den destruktiven Kräften der Unterwelt durchstoßen werden kann.“ Selbst Zweig kann sich dem anfänglich nur schwer entziehen. Doch zunehmend fühlt er sich abgestoßen von der Kriegspropaganda, in die auch befreundete Intellektuelle, Künstler und selbst Priester einstimmen – um gleichzeitig Vertreter einer anderen Meinung zu diffamieren. Zweigs Einsichten in die erschreckende Kraft politischer Propaganda, in den unerschütterlichen Glauben an die Eliten sowie in das Mitläufertum haben auch heute nichts an Aktualität verloren.

Das Ende des Ersten Weltkrieges markierte dann auch das Ende des „goldenen Zeitalters der Sicherheit“. Tradierte soziale, kulturelle und materielle Werte wurden von Revolution, politischen Polarisierungen, Wirtschaftskrise und Inflation weitreichend zerstört, und Zweig notiert luzide: „Nichts hat das deutsche Volk – dies muß immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation.“

Den Zerfall autoritärer Strukturen der Vorkriegsgesellschaft sowie die Anfänge avantgardistischer Strömungen in Kunst und Literatur vermerkt Zweig zwar durchaus positiv, doch macht er auch deren absurde Spitzen bewußt: „Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte; je jünger einer war, je weniger er gelernt hatte, desto willkommener war er durch seine Unverbundenheit mit jeder Tradition.“ Selbst ältere Intellektuelle legten sich eine „künstliche Wildheit“ zu, um dem Zeitgeist zu entsprechen, und „exzedierten in ‘Aktivismus’“.

Für Stefan Zweig selbst beginnt nach 1918 ein produktiver Lebensabschnitt mit schriftstellerischen Erfolgen und internationaler Anerkennung. Er geht auf Reisen, um „für die geistige Einheit Europas“ einzutreten, und knüpft neue Verbindungen zu Künstlern und Autoren. 1928 besucht er auch das revolutionäre Rußland und ist beeindruckt von dem offenbar in der Bevölkerung verbreiteten Bewußtsein, im Kommunismus etwas Neues, Bahnbrechendes vorzuleben. Doch der anonyme Brief eines Russen warnt ihn: Die Menschen sagten ihm nur das, was sie sagen dürften. „Wir sind alle überwacht und Sie selbst nicht minder.“ 

1934 emigriert er nach London, später von dort nach Brasilien

Trotz dieser Erfahrung bemerkt Zweig das Entstehen anderer politischer Massenbewegungen wie  Faschismus und Nationalsozialismus sowie den Aufstieg Hitlers erst spät: Der Nationalsozialismus in seiner „skrupellosen Täuschertechnik“ habe sich gehütet, die ganze Radikalität seiner Ziele zu zeigen. „Selbst die Juden sorgten sich nicht und taten, als ob die Entrechtung der Ärzte, der Rechtsanwälte, der Gelehrten, der Schauspieler in China vor sich ginge und nicht drei Stunden weit drüben im gleichen Sprachgebiet.“ 

Doch der „subversive Druck des ungeduldigen Deutschlands“ sowie eine Durchsuchung seiner Salzburger Wohnung durch die österreichische Polizei, was Zweig als ungeheuren Angriff auf seine persönliche Freiheit empfindet, läßt ihn 1934 nach London emigrieren. Nach dem vier Jahre später erfolgenden „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich ist Zweig staatenlos, zudem wird er mit der Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland dort zum „feindlichen Ausländer“. „Am Tage, da ich meinen Paß verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, daß man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.“ Zweig packt seinen Koffer, um nach Amerika zu gehen; ein Bild, mit dem er den Rückblick auf sein Leben beschließt.

In seinem letzten Exilland, Brasilien, schreibt er auch noch die „Schachnovelle“; wie seine Memoiren erschien sie jedoch erst postum. Heute zählt sie zum klassischen deutschen Literaturkanon, ist vielfach Schullektüre und wurde bereits zweimal verfilmt.

In seinen Erinnerungen beschreibt Stefan Zweig bei weitem nicht nur die Welt von Gestern; seine Beobachtungen weisen ebenso in die Zukunft: Sein Traum von einem in Frieden und Freiheit vereinten Europa existiert noch immer, doch noch immer ist es ein Traum. Was der überzeugte Europäer Zweig über die EU befunden hätte, können wir heute nicht beurteilen; daß nationalistische und wirtschaftliche Bestrebungen weiterhin zu Kriegshandlungen führen, hätte ihn wohl erschüttert. 

Der Kult um die Jugend und eine zugleich auf sie abzielende ideologische Agitation, die sie bis hin zu gewaltsamem Aktivismus führen soll, hat Zweig bereits beschrieben – ebenso wie die zerstörerische Gefahr von Propaganda und die Ausgrenzung von Teilen der Bevölkerung. Viele seiner Einsichten dürften erst in der Nachschau in ihm gewachsen sein, lebte Zweig doch fest im Glauben an den Pazifismus und eine humanistisch geprägte Kultur. „Geschichte kann man nie genau reproduzieren – wer weiß denn ‘die Wahrheit!’ –, wir müssen sie erfinden“, schrieb er 1941, mitten in der Rekonstruktion seiner Erinnerungen. 

Vielleicht hätte Stefan Zweig die folgenden Generationen warnen, sie zu hinterfragender Wachheit und kritischem Realitätssinn auffordern sollen. Auf daß sie seine eigene zwiespältige Lebensbilanz nicht teilen müssen: „Aber jeder Schatten ist im Letzten doch auch ein Kind des Lichts, und nur wer Helles und Dunkles, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niedergang erfahren, nur der hat wahrhaft gelebt.“ 

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020, broschiert, 704 Seiten, 16 Euro