Ein Mann harkt Laub an einem Schwimmbecken. Plötzlich gibt es einen gewaltigen Knall, ein Glastisch zersplittert, und das Mädchen, das neben dem Glastisch saß und dem Mann beim Harken zusah, hebt ab, schwebt wie ein Ballon durch die Luft.
So beginnt „Dream Scenario“, der neue Film mit Nicolas Cage. Ab und zu kommt es immer noch vor, daß der Neffe des berühmten Francis Ford Coppola („Der Pate“) in einem Film landet, mit dem er beweisen kann, daß er sein Metier blendend beherrscht. Um einen solchen handelt es sich bei „Dream Scenario“. Denn wann kommt es schon mal vor, daß ein Filmdrehbuch den Cineasten mit einer total irren Idee verblüfft, mit etwas, das wirklich ungesehen ist? Autor und Regisseur Kristoffer Borgli ist genau das gelungen mit dem Szenario für „Dream Scenario“ über einen unscheinbaren Mann, der erst zur Kult- und dann zur Haßfigur wird.
Er taucht in den Träumen wildfremder Menschen auf
Wieder verkörpert der für „Leaving Las Vegas“ (1995) mit einem Oscar ausgezeichnete Cage einen eher langweiligen Durchschnittsamerikaner, den Biologie-Dozenten Paul Matthews. Als Hochschullehrer mit standesgemäßer Halbglatze unterrichtet er an der Universität Oslar (kleine Verneigung vor Borglis Geburtsort Oslo), einer Lehr- und Forschungsstätte, die genausowenig prominent ist wie Paul. Dort erklärt er seinen Studenten den Grund dafür, warum Zebras gestreift sind: weil sie so in der Masse nicht auffallen. Es klingt wie eine Selbstbeschreibung des etwas linkisch auftretenden Lehrbeauftragten. Er ist leidlich glücklich verheiratet mit Janet (Julianne Nicholson). Gemeinsam haben sie zwei Töchter, die wie ihr Vater eher nicht aus der Masse herausragen. Seine Hauptsorge gilt einem Ideendiebstahl seitens seiner Verflossenen Sheila, die mit ihm früher an einem gemeinsamen Forschungsprojekt gearbeitet hat.
Unvermittelt häufen sich merkwürdige Träume, in denen Paul genau das ist, was er nun einmal ist: ein unbeteiligter Statist. Mal tritt er wie in der Szene vom Anfang auf als Laub harkender Niemand, mal als Spaziergänger im Wald, mal als Gast in einem unterbelichteten Nebenraum. Sein Name könnte auch Nobody sein. Als sich herausstellt, daß der Verhaltensforscher nicht nur in den Träumen seiner Töchter oder seiner Studenten auftaucht, sondern auch in denen von wildfremden Menschen (solche Fälle soll es 2006 in den USA tatsächlich gegeben haben), wird der Professor Niemand plötzlich und unerwartet zum Medienphänomen, zur „interessantesten Person der Welt“. Das geht so weit, daß sich sogar eine PR-Agentur für ihn interessiert und ihm ein vielversprechendes Engagement anbietet. Der PR-Stratege Trent (Michael Cera) will ihn unter Vertrag nehmen und für Sprite-Brause werben lassen. Paul hingegen hoffte nur auf etwas Rückenwind für sein Buchprojekt, um endlich mit dem groß rauszukommen, was er für seine Berufung hält.
Doch dann auf einmal kippt der Film, wandelt sich von der skurrilen Komödie zum Horrorfilm, von der geistreichen Mediensatire zur bissigen Cancel-Kultur-Parabel. Nach einer privaten Enttäuschung hat Paul einen Wutanfall. Das hat fatale Folgen: In den Träumen der Menschen beginnt er nun unfaßbare Grausamkeiten zu begehen. Und plötzlich ist der Gelehrte mit den hehren Zielen kein umjubelter Held mehr, sondern ein gefürchtetes Monster, das in gesellschaftlichen „Schutzräumen“ nur stört. Paul versteht die Welt nicht mehr.
Die Massenpsychose, die durch die surrealen Traumbilder ausgelöst wird, die Gespenster im Kopf, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, Halluzinationen als Realitätssurrogat – wer würde da nicht denken an die Anti-AfD-Hysterie, die in den vergangenen Wochen hierzulande einen neuen Höhepunkt erreicht hat? Davon konnte der Norweger bei der Arbeit an seinem Drehbuch zwar nichts ahnen, aber daß sein Film nun mitten hineinplatzt in einen psychopathisch ausgeflippten bundesdeutschen Politdiskurs, das macht ihn zum bemerkenswert luziden Kunstwerk. Das Phänomen, das „Dream Scenario“ so hellsichtig zum Thema macht, scheint also ein globales, mindestens aber in der westlichen Hemisphäre weit verbreitetes zu sein.
Auch wenn der US-Produktion zum Ende hin ein wenig die Puste ausgeht und sich nicht alles so schön in Wohlgefallen auflöst, wie man es sich als vernunftorientierter Zuschauer vielleicht wünscht, ist „Dream Scenario“ der Film der Stunde. Für alle, die sich in der jüngeren Vergangenheit, ohne sich eines Vergehens bewußt zu sein, in eine Rolle gedrängt sahen, die massiv von der Selbstwahrnehmung abweicht. Aber noch mehr für alle, die Mitbürger in eine solche hineingedrängt haben. Unbedingt ansehen!