© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

„Die Amitié ruft dich!“
Kino I: Der Science-fiction-Film „Die Amitié“ zeichnet ein ambivalentes Bild von Transformation und Globalismus
Dietmar Mehrens

Sie ist eine starke Gemeinschaft. Sie läßt sich mit Informationen füttern. Sie lernt, und zwar rasant. Sie kann auch telefonieren. Wenn sie eines ihrer Glieder anruft, erscheint auf der Anzeige seines Mobilfunkgeräts: „Die Amitié ruft dich!“ Man könnte sie auch so charakterisieren: Der furchterregende Computer HAL aus Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968) wirkt im Vergleich zu ihr wie ein kleiner Schuljunge.

Ein globales Gehirn, das all das zu universeller Einheit zusammenführt, was im alten Zeitalter noch isoliert existierte, ist genau wie der Begriff der Transformation ein zentrales Element der New-Age-Ideologie, der wir das gegenwärtig omnipräsente Regenbogensymbol verdanken. Kritiker wie Hans-Jürgen Ruppert von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen warnten schon während der Hoch-Zeit der New-Age-Welle in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vor dem religiös-autoritären Anspruch der neuen Lehre. Wofür im Mittelalter Kurie und Klerus zuständig waren, die Verwaltung des Glaubens, das Erlassen von Dogmen und Verhaltensregeln und das Beauftragen einer Inquisition für diejenigen, die sie brechen, könnte übergehen auf die Hohenpriester der neuen Religion.

KI-Nutzer tauchen in virtuelle Welten ein

Im Mittelpunkt der ebenso experimentellen wie originellen Regiearbeit von Ute Holl und Peter Ott steht ein solches globales Gehirn, heute besser bekannt als Künstliche Intelligenz. Sie heißt wie der Film: „Die Amitié“. Das ist das französische Wort für Freundschaft und sollte skeptisch machen. Seit Orwells „1984“ weiß schließlich jeder: Je positiver eine technokratische Namensgebung ausfällt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Gegenteil gemeint ist.

Das Leistungsvermögen der autodidaktischen „Amitié“ ist erschreckend weit gediehen. Sie kann Informationen austauschen, Migrationsrouten vergleichen, Jobs vermitteln und Geld transferieren. Wie sie funktioniert, erklärt eine Dialogzeile aus dem Film: „Die Algorithmen der Amitié entstanden aus dem Datenverkehr der Migration.“ Die KI lernt von den Berichten, die ihre Nutzer ihr schicken. Eine Art digitales Kettenbriefverfahren läßt den Datenkraken wachsen wie ein heißer Sommer Blaualgen. Und da jeder mitmachen kann, entsteht so eine weltweit vernetzte Sekte von Amitié-Adepten. 

Einer von ihnen ist Dieudonné Diallo (Yann Mbiene). Der Ivorer kommt wegen der Covid-Krise als Ersatz für ausbleibende Polen in einen Gewächshaus-Komplex der Eco-Greenhouse AG, eines holländischen Nahrungsmittelkonzerns, bei dem alles schön nachhaltig sein, aber trotzdem vor allem die Kasse klingeln soll: Für seine Arbeit als Erntehelfer bekommt der Arbeitsmigrant 50 Euro pro Woche und ein Bett in einer Gemeinschaftsunterkunft. Sein Kollege Osman (Aziz Çapkurt) weist ihn in die Vorzüge der Amitié ein. In wundersamer Windeseile lernt der Afrikaner mit ihrer Hilfe Deutsch. Ein Pappkarton mit integrierter VR-Brille ermöglicht es den KI-Nutzern, in unfertige virtuelle Welten einzutauchen, die zu den visuellen Besonderheiten dieses halbutopischen Autorenfilms in „Kleines Fernsehspiel“-Ästhetik gehören.

Im Bus nach Lübeck ist Dieudonné der hübschen Polin Agnieszka (Sylwia Gola) begegnet. Die gläubige Christin ist Schwester eines katholischen Ordens und als Pflegekraft in die Hansestadt entsandt worden, um im Auftrag eines Kunsthochschulprofessors dessen Vater Siegfried Voss (Walter Hess) zu betreuen. Der kann wegen seiner Demenz nicht mehr allein leben. Ihrer Vorgesetzten muß Agnieszka via Videoschalte regelmäßig Rechenschaft ablegen. Denn Agnieszka soll sich im Haushalt des Rentners auch als Missionarin der Nächstenliebe bewähren. Als Siegfried ihr ausbüxt, eilt Dieudonné der Pflegerin zu Hilfe. Und so gerät auch Agnieszka in den Sog der unheimlichen KI …

Mit leider etwas einseitiger Parteinahme kontrastiert das Autorengespann ein repressiv dargestelltes traditionelles Christentum (altes Zeitalter) mit dem transformativen Technokult der global vernetzen KI-Sekte (neues Zeitalter). Immerhin: Ein moderner Charon und ein merkwürdig ambivalenter Polizeibeamer, der zwischen Willkommenskultur und Schleuserfahndung schwankt, bringen am Ende noch etwas Abwechslung in die anfangs reichlich schematisch angelegte Geschichte. Realität, Traum und virtuelle Realität verschmelzen. Und der Zuschauer muß sich selbst zurechtfinden in der skizzierten „schönen neuen Welt“. Wie es sich für einen Autorenfilm gehört.