© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Dorn im Auge
Christian Dorn

Schneller als gedacht: Erst im Nachgang wird sich W. der fünffachen Ordnungswidrigkeit bewußt, als er mit überhöhter Geschwindigkeit am – auf der seitlichen Parkfläche plötzlich aufleuchtenden – Polizeiauto vorbeirast, das zum Glück nicht folgt. Überdies hat er getrunken. Drittens ist sein Führerschein ungültig, da er noch nicht dazu kam, ihn umzutauschen. Aus demselben Grund ist – viertens – seit geraumer Zeit der TÜV abgelaufen. Fünftens ist schon länger der Fahrzeugschein nicht wieder aufgetaucht.

Leitspruch: „Theaterzauber macht Mord und Totschlag zum Vergnügen“.

Ich kann es kaum glauben,und tauche ebenfalls ab – in die eigene Geschichte. Im Stammlokal „Pinocchio“ treffe ich auf die gutgelaunten Schüler der Theater-AG von dem Gymnasium, an dem ich seinerzeit selbst – an der „EOS Bertolt Brecht“ – im Sommer 1989 das Abitur machte. Wie ich höre, haben sie ein Stück aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gespielt, in dem eine Figur aus der Gruppe, die jemanden verraten und dadurch getötet hat, von den anderen dafür ermordet wird. Offenbar aus Prinzip: Lautet der Leitspruch dieser Arbeitsgemeinschaft doch „Theaterzauber macht Mord und Totschlag zum Vergnügen“. Ganz anders mein Flashback. Unwillkürlich erinnere ich mich an die gewissermaßen „soziale Tötung“ unseres Klassenkameraden Amin, Sohn eines Schwarzafrikaners, am 1. September 1987 zu Beginn des 11. Schuljahres: Unser Klassenlehrer bemerkte kurz, daß „der Schwarze“ – oder sagte er gar „unser Brikett“ (den Namen vermied er) – nicht mehr wiederkomme, wir aber darüber nicht nachgrübeln sollten, da es so besser für uns sei, weil es jetzt – in den letzten zwei Schuljahren – „ernst“ werde und „der Schwarze“ uns dabei sowieso nur gestört hätte. Angeblich hätte er auch was angestellt. Daß wir alle spuren und kein Wort mehr darüber verlieren – es läßt mich bis heute nicht los. Doch so, wie bereits hier Amins Name ausgelöscht wurde, verläuft auch Jahrzehnte später die Suche nach seinen Spuren erfolglos – wie vom Erdboden verschluckt. Sein Name scheint kein einziges Mal zu existieren, so fragt mich das Internet als Antwort auf meine Recherche: „Meintest Du Amin Always?“ Als wollte das Schicksal spotten, erinnere ich mich an den ersten gemeinsamen Schultag, September 1985, als ich ihn – der als Internatsschüler ganz allein war – gleich mit nach Hause nahm, wo wir im Kinderzimmer ausgerechnet „Scotland Yard“ spielten. Während ich dies niederschreibe, läuft im Radio „Smalltown Boy“ von Bronski Beat mit dem Refrain „Run away, turn away (...)“ – und ich sehe es noch vor mir, wie Amin sich katzengleich sofort auf die Tanzfläche schlich, wissend um seine Avancen beim anderen Geschlecht.


Selbst ein „Smalltown Boy“, da aus Halberstadt im Harzvorland, erlebte ich vom Geäst einer Trauerweide vor der Bühne in Berlin-Weißensee im Sommer 1988 das Konzert von Bruce Springsteen. Als plötzlich alle FDJ-Ordner im blauen Hemd bei „Born in the USA“ aus voller Kehle mitsangen, war mir klar, daß die DDR nur noch Fassade ist. Da spielt das Radio Bruce Springsteens „Hungry Heart“ – und mir schießen Tränen in die Augen.