Das größte Meisterwerk des Erfolgsautors Stefan Zweig ist nicht unter seinen Biographien und Novellen zu finden, die in der Zwischenkriegszeit bis zu sechsstellige Auflagen erreichten, sondern das ist sein Freitod, den er im brasilianischen Petropolis im Februar 1942 gemeinsam mit seiner Frau Lotte wählte. Diese etwas zynisch klingende These stammt von Jean Améry, einem österreichischen Landsmann und Schriftstellerkollegen Zweigs, dem man zumindest Expertise in Sachen Suizid nicht absprechen kann: 1974 mißlang dem Holocaust-Überlebenden ein erster Versuch, sich umzubringen, 1976 publizierte er mit „Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod“ eine Art Kultbuch für die vor den „Grenzen des Wachstums“ verzagende „No Future“-Generation der „bleiernen Zeit“, und am 17. Oktober 1978 – am Vorabend des Geburtstags Heinrich von Kleists – eine zufällige Terminierung? – verabreichte sich der depressive Schmerzensmann in einem Hotelzimmer in Salzburg, wo Zweig einst bis zu seiner Emigration auf dem Kapuzinerberg residierte, schließlich eine tödliche Dosis Schlaftabletten.
Drei Jahre zuvor war im Nachtprogramm des Norddeutschen Rundfunks, im Rahmen einer 1981 posthum veröffentlichten Reihe, in der Améry an „Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts“ erinnerte, auch Stefan Zweigs Œuvre einer kritischen Sichtung unterzogen worden. Sie fiel überraschend positiv aus. Zwar beharrt Améry darauf, erst der Freitod des von Karl Kraus, Kurt Tucholsky und Thomas Mann gleichermaßen verspotteten Belletristen habe dessen „oft zulänglichem Opus“ mit seinen peinlich journalistischen Elementen eine neue, ernste Dimension verliehen. Ein Urteil, das freilich, abgesehen von der 1941 geschriebenen „Schachnovelle“, einer der großen „Kurzprosa-Schöpfungen der deutschen Literatur“, nicht für das oberflächlich psychologisierende Erzählwerk gelte, das beim Wiederlesen nur enttäusche.
Verdienste um das historische Bewußtsein
Anders stehe es um seine Biographien und biographischen Miniaturen. Hier erweise sich das am Erzähler Zweig gerügte Feuilletonistische, der überredende, aufdringliche Wiederholungen nicht scheuende, rhetorisch-pathetische Stil als Salz in der Suppe. Ein derart mit Spannung aufgeladener historischer Stoff ziehe den Leser in seinen Bann und vermittle ihm Geschmack an politischer Geschichte und Geistesgeschichte. Historiker mögen daher zehnmal die Nase rümpfen über solche „romancierte Geschichtlichkeit“.
Aber im Unterschied zu den mit Fußnoten gepanzerten Erzeugnissen der akademischen Geschichtswissenschaft, die überwiegend allein in Fachkreisen rezipiert werden, wirken Zweigs Vergegenwärtigung von Gestalten wie Joseph Fouché, Marie-Antoinette, Maria Stuart, Erasmus von Rotterdam oder Sebastian Castellio „volksbildnerisch“. Bildungshochmut gegenüber dem „Popularisator“ Zweig sei angesichts der großen didaktischen, historisches Bewußtsein fördernden Verdienste dieses Biographen unangebracht. Die „radikale Abwertung“, die dieser „Weltstar der Literatur“ nach 1945 erfahren habe, sei mithin eine offenkundige Ungerechtigkeit.
Aber die Wiedergutmachung setzte just zu der Zeit ein, als Amérys Plädoyer für eine Revision der literaturhistorischen Verdammung 1981 gedruckt erschien. Initiiert von Knut Beck, dem Lektor des S. Fischer Verlags, der seit den frühen 1980ern mit der Herausgabe einer neuen, 36bändigen Werkausgabe Zweigs, mit der Edition seiner Tagebücher (1984) und einer monumentalen, vierbändigen Briefauswahl (1995–2005) eins der, neben Thomas Mann und Franz Kafka, ertragreichsten Zugpferde des Verlags wieder in den Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung der Literatur der „klassischen Moderne“ gerückt hat.
Das neue Album mit 300 Fotos läßt zwei schmerzliche Lücken
Eine 2008 gegründete Internationale Stefan-Zweig-Gesellschaft, ein als Forschungs- und Begegnungsstätte in Salzburg eingerichtetes Stefan Zweig Centre, Ausstellungen in Salzburg, Berlin und zuletzt 2021/22 in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, Maria Schraders Spielfilm „Vor der Morgenröte“ (2016), der sich als „feinfühlig bebilderte Zeitgeschichte“ (Tilman Krause) Stefan Zweigs Exiljahren in den USA und Brasilien widmet, ein 2018 veröffentlichtes, enzyklopädisches, für alle weitere Forschungsarbeit so unentbehrliches „Stefan-Zweig-Handbuch“ und eine wachsende Zahl von Spezialstudien konzentrieren die Zweig-Rezeption inzwischen auf einen kulturpolitischen Mode-Schwerpunkt: Zweig, der „repräsentative Vertreter des kosmopolitischen Wiener Judentums und weitblickende Wegbereiter der geistigen Einheit Europas“.
Neben Knut Beck ist es Oliver Matuschek gewesen, der den 1932 weltweit meistgelesenen,
meistübersetzten deutschsprachigen Autor wieder literaturhistorisch ins Gespräch brachte. Seine Bemühungen setzten zum 125. Geburtstag 2006 mit einer viele Legenden zerstörenden Biographie über die „Drei Leben“ des Großschriftstellers ein und kumulierten seit 2018 in einer nicht nur für Bibliophile bestimmten Dokumentation über „Stefan Zweigs Bibliotheken“, der opulenten Edition des dichten Briefwechsels mit Zweigs Verleger Anton Kippenberg (2022) und nun im „Stefan Zweig Album“, das die Lebensstationen des reisefreudigen „fliegenden Salzburgers“ mit 300 teils unveröffentlichten Fotos illustriert. Das Unternehmen ist nicht ohne Vorläufer, zu verweisen wäre auf die Bildbiographie Friderike Zweigs, seiner geschiedenen Frau (1961), und das vom Zweig-Biographen Donald Prater mit herausgegebene Insel-Taschenbuch „Leben und Werk im Bild“ (1981). Doch wo das eine zu hagiographisch redselig ist, verzichtet das andere auf jede deutende Kommentierung der Bilder.
Was Matuschek dagegen bietet, ist eine sachliche, wenn auch zu knappe Einfügung eines Einzelschicksals in die zeit- und kulturhistorischen Zusammenhänge des „Zeitalters der Extreme“. Leider läßt er dabei zwei überaus schmerzliche Lücken. Einerseits versucht er nicht einmal, Ursachen für die phantastisch anmutende Resonanz des manisch Bestseller fabrizierenden Autors aufzuspüren. Welche Bedürfnisse welcher soziologisch exakt fixierbaren Leserschaft wurden mit Zweigs „seelenkundlich“ orientierten Biographen befriedigt? Warum konnten sich Biographien dieser Machart in den 1920ern als „neubürgerliche Kunstform“ (Siegfried Kracauer) etablieren, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und Nordamerika, so daß ein „biographisches Zeitalter“ anzubrechen schien – allein in den USA kamen zwischen 1916 und 1930 atemberaubende 4.800 Biographien auf den Buchmarkt. Da Biographien bis heute zu den am meisten verkauften historischen Sachbüchern zählen, wäre ein vergleichender Hinweis auf den über Generationen hinweg stabil gebliebenen Sinnhunger des bildungsbürgerlichen Publikums vielleicht nicht überflüssig gewesen.
Andererseits scheut Matuschek davor zurück, das Selbstverständnis eines Autors zu analysieren, der als liberaler Pazifist und Kosmopolit ab 1933 historische Gestalten wie Erasmus und Castelliofür den Kampf gegen die NS-Diktatur aktualisierte, sich aber dabei weiterhin naiv als „unpolitischer“ Anwalt einer „überparteilich, zeitlosen Humanität“ gerierte. Ohne die Thematisierung dieses weltfremden Kulturhumanismus und des schizophrenen Syndroms des Unpolitischen, die typisch war für das Gros nicht nur der deutschen akademisch-intellektuellen Elite, bleibt die Gestalt Stefan Zweigs trotz der vielen Bilder jedoch konturenlos. Was nicht dagegen spricht, Matuscheks Album mit Améry zu loben: Es gibt dem Leser Geschmack an Geschichte und Geistesgeschichte.
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Oliver Matuschek: Ein Leben in Bildern. Das Stefan Zweig Album. Benevento Verlag, Salzburg/Wien 2023, gebunden, 256 Seiten, durch-gehend bebildert, 30 Euro