© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Plötzlich Gefährderin
„Fall Loretta“: Entgegen anfänglichen Behauptungen ging es an einem Gymnasium in Ribnitz-Damgarten um mehr als Schlümpfe auf TikTok. Trotz eines nichtigen Anlasses holte der Direktor eine 16jährige Schülerin mit drei Polizisten vor den Augen der Schule aus ihrer Klasse
Martina Meckelein

Die Verbindung klappt erst beim zweiten Mal. Doch dann ist Jan-Dirk Zimmermann, der Direktor des Richard-Wossidlo-Gymnasiums in Ribnitz-Damgarten, am Telefon. Seine Stimme klingt erst freundlich zugewandt, um dann im Bruchteil einer Sekunde, nachdem ihm klar wird, daß die JUNGE FREIHEIT in der Leitung ist, kalt zu wirken. „Nein“, sagt er kurz angebunden, eine E-Mail mit einem Fragenkatalog habe er nicht bekommen. Nachdem er hört, daß sie am Donnerstag, den 7. März um 16 Uhr gesendet wurde, mutmaßt er, sie könne im Sekretariat hängengeblieben sein. Im übrigen dürfe er der Presse nichts sagen. Zimmermann ist seit knapp zwei Wochen vermutlich der bekannteste Pädagoge der Bundesrepublik. Eine Prominenz, die darauf gründet, daß er seine eigene Schülerin bei der Polizei anschwärzte. Sie hatte blaue Schlümpfe und den Spruch, Deutschland sei mehr als ein Ort, es sei Heimat, auf TikTok veröffentlicht, behaupten Mutter und Schülerin der JF gegenüber. Die Polizei wiederspricht dem.

Hatten die Beamten die Mail, die Direktor Zimmermann erhalten hatte, der Schülerin während des Gesprächs vorgelegt, fragte die JF nach. „Nein, haben Sie nicht“, so Marcel Opitz, Pressesprecher der Polizeiinspektion Stralsund. Auch wurden die Screenshots ihr weder gezeigt noch im einzelnen mit ihr besprochen, so die Polizei. Doch wenn weder Screenshots gezeigt noch diskutiert wurden, was genau war dann der Inhalt des Gesprächs? „Die Beamten entschlossen sich, zum Schutz der Jugendlichen ein präventives Gespräch zu führen“, so Opitz. 

Die Beamten stellten klar, daß Meinungsfreiheit ein hohes Gut sei und daß ihre Posts als freie Meinungsäußerung gewertet würden. „Des weiteren ging es in dem Gespräch darum, sie vor möglichen Anfeindungen von Andersdenkenden zu schützen, zum Beispiel Verhinderung von Haß und Hetze im Netz, sowie mit ihr die Grenzen der Meinungsfreiheit zu besprechen, wenn z.B. Straftaten begangen werden wie durch volksverhetzende Begriffe oder Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole.“ Der Anlaß des Einsatzes sei kein Schlumpfvideo gewesen, so die Polizei und weiter schließt sie aus: „Schlümpfe spielten keine Rolle in dem Gespräch.“ Loretta und ihre Mutter bleiben auf Nachfrage der JF dabei: „Weder Loretta noch ich kennen den Inhalt der anonymen E-Mail“, und soweit entsprechen ihre Darstellungen denen der Polizei. Allerdings nicht im letzten Punkt: „Außer dem Schlümpfe-Post und dem ‘Deutschland ist kein Ort – Deutschland ist Heimat’ wurde seitens der Polizei nichts anderes thematisiert.“

Der Schuldirektor habe die Polizei aufgrund eines geheimen Zusatzes zu einer Verwaltungsvorschrift eingeschaltet, sagt das Bildungsministerium der JF (siehe Infokasten).

„Es war am 27. Februar, einem Dienstag, so kurz vor zehn“, schildert Loretta B. (16), Gymnasiastin an Zimmermanns Schule, ihren Fall gegenüber der JF. „Wir hatten gerade Chemie­unterricht. Da sehen wir durchs Fenster, wie ein Polizeiwagen vorfährt.“ Kurz darauf klopft es an der Tür. „Herr Zimmermann trat herein“, erinnert sich Loretta, „die Tür wurde dabei von ihm so weit geöffnet, daß der Rest der Klasse deutlich wahrnehmen konnte, daß dort Polizisten stehen. Alle dachten wir, was ist jetzt los? Und dann fiel mein Name.“

Loretta B. wird aufgefordert mitzukommen.  „Ein Polizist vor, einer hinter mir, einer seitlich und auf der anderen Seite halbschräg Herr Zimmermann“, schildert sie die Eskortierung durch das Schulgebäude zum Lehrerzimmer. Auf dem Weg dorthin muß die Gruppe durch das Atrium der Schule, wo mindestens zwei Klassen sitzen. „Sämtliche Stimmen verstummten und alle haben mich angestarrt – das war wirklich sehr, sehr unangenehm“, sagt sie. „Gott sei Dank erreichten wir endlich das Lehrerzimmer. Aber leider waren dort schließlich noch Herrn Zimmermanns Sekretär, unsere Hausmeister und ein Lehrer.“

Polizei stellt schnell fest: Postings waren nicht strafbar

Was war denn nun genau passiert? „Gegen 09.45 Uhr informierte der Schulleiter die Polizei über einen möglicherweise strafrechtlichen Sachverhalt“, erklärt Polizeisprecher Opitz der JF. „Demnach lägen Informationen vor, wonach eine 17jährige Schülerin mutmaßlich verfassungsfeindliche Inhalte in sozialen Netzwerken verbreitet haben könnte. Es wurde ein Funkwagen zur Schule entsandt, um diesen Sachverhalt zu prüfen.“

Die Beamten hatten die Posts geprüft, doch „ein Anfangsverdacht einer Straftat konnte mithin nicht festgestellt werden“, sagt Opitz. Statt die ganze Aktion abzublasen, wird Loretta zum Spießrutenlauf genötigt. Auf welcher Rechtsgrundlage fand das Gespräch statt? Die Polizei erlärt: „Nach der Feststellung, daß nach vorliegenden Informationen kein strafrechtlicher Sachverhalt vorzuliegen scheint, wurde mit der Schülerin eine Art ‘Gefährderansprache’, hier ein normenverdeutlichendes Gespräch gemäß Paragraph 13 des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes in Mecklenburg-Vorpommern geführt.“ In dem Gespräch, so die Polizei, wurden Loretta zwei Straftatbestände aufgezeigt, und zwar die Paragraphen 86a und 130 Strafgesetzbuch.

Loretta sagt, sie habe das alles nicht verstanden. Schließlich hätte sie sich ja – das sagten die Beamten ihr – nichts zuschulden kommen lassen. „Ich habe gesagt, daß die AfD doch gar keine verfassungsfeindliche oder rechtsextremistische Partei ist. Als ich das sagte, bemerkte ich im Augenwinkel, wie Herr Zimmermann nur die Augen verdrehte. Einer der Polizisten meinte auch, ich hätte auf TikTok schon ‘zu viel Nationalstolz’ gezeigt.“

Lorettas Mutter macht dem Schulleiter Vorwürfe. „Ich rief in der Schule beim Direktor an. Ich sagte, ‘Herr Zimmermann, wenn Sie meinen, daß mit meiner Tochter etwas nicht stimmt, reden Sie erst mit mir!’ Da sagte der Direktor zu mir, daß er das nicht dürfe, er habe die Auflage, sofort die Polizei zu informieren.“ Eine Anfrage diesbezüglich beim Landesbildungsministerium blieb unbeanwortet. 

Die JF machte am Abend des 13. März diesen Skandal öffentlich. Der bildungspolitische Sprecher der AfD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Enrico Schult, äußerte sich uns gegenüber folgendermaßen: „Dieser skandalöse Vorgang offenbart, daß unsere Schulen immer mehr zur Gesinnungsschnüffelei benutzt werden sollen. Sofern es dazu tatsächlich eine Anordnung des Bildungsministeriums gab, muß das dort politische Konsequenzen haben. Denn ein Schulleiter sollte sich eher vor seine Schüler stellen und mindestens zuerst die Eltern ins Vertrauen ziehen.“ 

Schult nimmt diesen Vorfall zum Anlaß, um ihn am Folgetag im Plenum des Landtags zu debattieren. Und damit beginnt die Landesregierung das Vorgehen von Polizei und Direktor zu verteidigen. Christian Pegel (SPD), Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, will in der Fragestunde des Landtags über den handfesten Skandal hinweggehen. „Ich glaube, daß die Verhältnismäßigkeit gewahrt war, weil man keine Festnahme, keine Handschellen, keine böse Ansprache gewählt hat“, beantwortet Pegel die Frage von Schult. Auch der Bundestag will sich am Freitag mit dem Fall beschäftigen.

Kein Einzelfall? Das Gymnasium gerät weiter in die Kritik

Das sagt der Minister, obwohl sich die Schülerin nichts hatte zuschulden kommen lassen. Diejenige, die dafür dankbar sein sollte sei die Gymnasiastin selbst. Das Vorgehen der Beamten diene „nach unserer Überzeugung dem Schutz sowohl der Schüler als auch in der Gesamtkonstellation dem Schutz der Schule, weil wir dann auch ein Stück weit Grenzziehung klar bekundet haben“. Pegel sagt auch: „Deswegen gibt es die Gefährderansprache, die eben genau davor (vor einer Straftat, Anm.d.R.) ansetzen soll, Menschen davor bewahren soll.“ Das folgende Medienecho scheint die Landesregierung zu überraschen.

Sei es, um die Empörung über den Vorfall einzufangen oder die Sicht des Ministeriums noch einmal zu verdeutlichen, veröffentlicht die Polizeiinspektion Stralsund am 14. März eine Pressemitteilung. In ihr stellen die Beamten ihren Umgang mit der Schülerin und die Reaktion des Mädchens als auch der Mutter aus ihrer Sicht dar. Dort heißt es, daß sich die Schülerin verständnisvoll gegenüber den polizeilichen Maßnahmen und einsichtig zeigte „und dem präventiven Ansatz dahinter, da es darum ging, sie vor möglichen Anfeindungen zu schützen, die sich aus ihren Aktivitäten in sozialen Netzwerken ergeben könnten. Auch gegenüber der Mutter wurde das sensible Thema telefonisch besprochen und der Einsatzanlaß umfassend dargelegt. Auch sie zeigte gegenüber der Polizei Verständnis für den Einsatz. Die 16jährige ging kurz darauf wieder in den Unterricht, ohne weitere Begleitung.“

Berichten erst die Online-Portale über den Online-Artikel dieser Zeitung, folgen die Bild, die Neue Zürcher Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Welt und der Spiegel nach. Nach anfänglichem Zögern folgen auch die Lokal- und Regionalzeitungen. Wer auf die Leserkommentarspalten schaut, erlebt ein eindeutiges Echo: 90 Prozent der Kommentatoren sind entsetzt über das Verhalten der Behörden. Der Norddeutsche Rundfunk hingegen, zuständig für Mecklenburg-Vorpommern, wirft AfD-Politikern und „rechtspopulistischen Medien“ vor, eine Kampagne zu fahren, indem sie der Schule wiederum Stasi-Methoden anlasteten. Es folgen Reaktionen auf die Berichterstattung im Internet. Fotos des Direktors Zimmermann werden veröffentlicht und er wird beleidigt. Am Montag, den 18. März um 7.45 Uhr klettern Vermummte auf das Dach der Schule und entrollen ein Tranparent: „Heimatliebe ist kein Verbrechen.“ Die Täter sind flüchtig, das Transparent beschlagnahmt.

Ist Loretta ein Einzelfall? Leider nicht. Das Nachrichtenportal „Nius“ konnte an derselben Schule ein weiteres Mädchen ausfindig machen. Ihre Mutter schilderte, wie auch ihr die Freiheit, ihre Meinung zu äußern, untersagt wurde. „Wer die Grünen wählt, hat kein Gehirn“ war offenbar zu viel für ihre Lehrerin.

Umfangreiche Fragenkataloge, die diese Zeitung an das Innenministerium und das Bildungsministerium schickte, wurden mit dem Verweis auf die Polizei als Ansprechpartner nicht beantwortet. Der Generalsekretär der Landes-CDU, Daniel Peters, nannte die bisherigen Äußerungen der Landesregierung dazu nicht zufriedenstellend. „Das Ganze ist ungeheuerlich, und die bisherigen Erklärungen der Regierung sind sehr unbefriedigend. Ich verlange lückenlose Aufklärung.“ Der Bildungsausschuß des Landtags wird sich mit dem Vorfall an dem Gymnasium beschäftigen.

Am vergangenen Montagabend begann die Zeitung Welt, Zweifel zu säen. Unter der Überschrift „Gab es in der Schlumpfposse gar keine Schlümpfe?“ schrieb das Blatt von acht Bildschirmfotos. Sie seien der E-Mail, die der Direktor erhalten hatte, beigefügt gewesen. Die Bildschirmfoto-Beschreibungen liegen der JUNGEN FREIHEIT ebenfalls vor. Sie sind sehr vage. Offenbar der geringen Qualität der Fotos geschuldet. Die Polizeibeschreibung lautet: „Kopf einer augenscheinlich weiblichen Person mit offenbar hellem Haar, beschrifteter Strickmütze und Kapuze auf und vermummt, so daß lediglich die Augenpartie zu sehen ist. Im Vordergrund steht „nix yallah yallah .“ Der Nutzername unten links ist mit einem Zusatzzeichen einer Deutschlandfahne versehen, darunter die Zahl 1161 und darunter diverse Hashtags („#foryou #fürdich #fyp #fy“). Der Schriftzug auf der Mütze könnte „Pit Bull West Coast since 1989“ lauten, und die Zahl 1161 wird unter anderem im Internet für Anti (1) Antifa (161) gebraucht. Der Kapuzenpullover/-jacke hat die Buchstaben „HH“ aufgestickt.“ Die FAZ hat am folgenden Tag behauptet, sie stünden für „Heil Hitler“. Tatsächlich handelt es sich um das Markenlogo des angesehenen norwegischen Segelausstatters Helly Hansen. Eine Jacke dieser Marke besitzt Loretta. Das Foto liegt der JF vor. Eine Jacke ebendieser Marke Helly Hansen mit den Buchstaben „HH“ trug auch Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Ministerpräsidentin von Manuela Schwesig am 14. Januar 2023 bei der Besichtigung eines LNG-Terminals in Lubmin. 

Lesen Sie dazu das ausführliche Interview mit der Schülerin und ihrer Mutter auf Seite 3. Die JF wird weiter berichten – auch online.





„Fall Loretta“: Rechtliche Fragen und Voraussetzungen

Die Polizei bezieht sich in ihrer Antwort gegenüber der JF erstens auf Paragraph 13 des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes in Mecklenburg-Vorpommern: „Die Ordnungsbehörden und die Polizei haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtgemäßem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem Einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird.“

Zweitens nimmt sie bezug auf Paragraph 86a StGB. Der bezeichnet das Zeigen verfassungsfeindlicher oder terroristischer Kennzeichen. Gemeint sind hier zum Beispiel Hakenkreuze, der Deutsche Gruß, diverse Runen oder Tattoos mit Mottos wie Blut und Ehre. Paragraph 130 StGB stellt Volksverhetzung unter Strafe. Darunter sind zum Beispiel Haß- und Gewaltaufrufe gegen ethnische Gruppen zu verstehen.

Das Bildungsministerium erklärte gegenüber der jungen freiheit, der Schulleiter habe die Polizei aufgrund einer Vorschrift aus dem Jahr 2010 benachrichtigt. Diese Verwaltungsvorschrift behandelt „den Umgang mit Notfällen an den öffentlichen Schulen des Landes Mecklenburg-Vorpommern“. So sei im Fall von Mord, Körperverletzung, Vandalismus, Bombendrohungen, Amokankündigungen oder Extremismus die Polizei zu benachrichtigen. „Bei Besitz, Erstellung und/oder Verbreitung von Textnachrichten, Fotos oder Videos“ erfolge, „wenn ein strafrechtlicher Hintergrund nicht zweifelsfrei ausgeschlossen“ werden könne, eine Absprache mit der Polizei, erklärte das Ministerium der Welt. Inwieweit ein Internetpost einen Notfall an einer öffentlichen Schule darstellt, der zudem eine solche Dringlichkeit besitzt, daß die Polizei unverzüglich und ohne vorab mit den Erziehungsberechtigten zu sprechen, einschreitet, konnte das Ministerium nicht erklären. (mec/mp)