© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/24 / 22. März 2024

Kein Material und keine Leute
Bundeswehr: Der Jahresbericht der Wehrbeauftragten verdeutlicht die Krise in der Truppe
Ferdinand Vogel

Der aktuelle Bericht der Wehrbeauftragten des Bundestages zeichnet erneut ein düsteres Bild der Bundeswehr. Vor allem bei Personal und Ausrüstung geht es immer weiter bergab. Ist die „Zeitenwende“ bereits gescheitert? Der Bericht legt zumindest nahe, daß die strukturellen Probleme der Bundeswehr enorm sind und bleiben.

Im aktuellen Berichtsjahr dienten insgesamt 181.514 Soldaten in der Bundeswehr, was einem Rückgang um 1.537 gegenüber dem Vorjahr entspricht. Trotz zahlreicher Maßnahmen zur Nachwuchsgewinnung blieb der Bewerberansturm aus. Besorgniserregend für die Truppe ist die hohe Abbruchquote während der sechsmonatigen Probezeit, die rund 26 Prozent derjenigen betrifft, die im Jahr 2022 den Dienst angetreten hatten. Auch Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zweifelt längst daran, daß die vor einigen Jahren angepeilte Personalstärke von 203.000 Soldaten bis zum Jahr 2031 erreicht werden kann. Von den bis zu 60.000 gewünschten Reservisten ganz zu schweigen. Angesichts des sich abzeichnenden Trends bei der Rekrutierung neuer Soldaten, dem dramatischen Altern der Bundeswehr insgesamt, steht die Truppe vor enormen Herausforderungen. 

„Die Bundeswehr altert und schrumpft“, betonte die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) bei der Vorstellung ihrer Erhebungen in Berlin. Und tatsächlich weist der Bericht zusätzlich noch aus, daß sich unter den 16- bis 29jährigen – also gerade jener Alterskohorte, die die Bundeswehr für den Dienst gewinnen will – nur noch 19 Prozent der Männer und sechs Prozent der Frauen tendenziell vorstellen können, zur Bundeswehr zu gehen. Damit hat sich die Bereitschaft im Vergleich zum Jahr 2022 bei Männern fast und bei Frauen mehr als halbiert. 

Und das, obwohl gemäß der neuen Heeresstruktur für die größte Teilstreitkraft ambitionierte Aufwuchsziele ausgewiesen werden. Von derzeit vier Artilleriebataillonen soll die Truppe immerhin auf insgesamt drei Regimenter und ein weiteres Bataillon aufwachsen – und zwar bis 2027. Woher die Soldaten dafür kommen sollen, ist angesichts der aktuellen Zahlen unklar. In der von Minister Pistorius angekündigten Planung will man dennoch vom Personalziel von 203.000 Soldaten nicht abweichen. Das würde bedeuten, daß die Bundeswehr in den nächsten Jahren entgegen dem Trend Zehntausende weitere aktive Soldaten gewinnen muß. Kein Wunder, daß von seiten des Verteidigungsministers auf einmal die Debatte um eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht angefacht wird. 

Die forderte die AfD seit 2017 bereits mehrfach im Bundestag. Ihre diesbezüglichen Anträge wurden von SPD, Union, Grünen und FDP stets abgewiesen. Nun soll die Wehrpflicht nahezu alternativlos sein, um den Personalbedarf der Bundeswehr zu decken. Wie desolat die Situation ist, zeigt sich weiter vor allem bei den Mannschaftsdienstgraden, wo viele Stellen vakant bleiben. Etwa 18 Prozent aller Dienstposten bleiben insgesamt weiterhin unbesetzt. Dabei zeigt sich, daß besonders bei den Mannschaftern eine Verpflichtungszeit von 25 Jahren sehr gefragt, jedoch häufig nicht umsetzbar ist. Spezifisch für diese Zielgruppe hat man die neuen Dienstgrade Korporal und Stabskorporal eingeführt.

Die Personaldeckung der Marine bleibt ebenfalls problematisch, insbesondere bei Unteroffizieren mit und Unteroffizieren ohne Portepee (also Bootsleuten und Maaten). Von denen sind rund 14 beziehungsweise 26 Prozent nicht besetzt. Diese Unterbesetzung führt zu spürbaren Einschränkungen in der personellen Einsatzbereitschaft, vor allem bei Besatzungen der Fregatten. 

Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, machte vergangene Woche in der ARD deutlich: „Wir haben in allen Teilstreitkräften massive Probleme gemessen am Auftrag, an der Lage.“ Ihm zufolge sei keine einzige Heeresbrigade einsatzbereit.  

Finanzieller Anreiz für Freiwillige im Baltikum 

Aber auch anderswo zeigt sich, daß Realität und Anspruch weit auseinandergehen. Die massiven Abgaben von Material an die Ukraine, darunter Unmengen an Munition, Minensperren, Panzer, Flugabwehrsysteme und alles andere, was die Truppe auf Lager hatte oder von der Industrie zurückgehalten wurde, haben die Materialsituation der deutschen Streitkräfte deutlich verschlechtert. Trotz des bereits angezapften Sondervermögens von hundert Milliarden Euro, das für etliche Beschaffungsvorhaben in den nächsten Jahren aufgebraucht werden soll, gesteht Högl im Bericht ein, man komme um eine deutliche Erhöhung des Wehretats nicht herum. 

Allein die Aufstellung einer einzigen kampffähigen Brigade für Litauen (knapp 4.800 Mann) erweist sich als Mammutaufgabe. Denn vor allem durch finanzielle Anreize will man die Soldaten motivieren, sich freiwillig zum Dienst im Baltikum zu melden. Eine erneute Mehrbelastung für den auf Kante genähten Verteidigungshaushalt. Lediglich bei der persönlichen Ausrüstung für die Soldaten sieht der Bericht der Wehrbeauftragten Fortschritte. So sollen bis kommendes Jahr alle Angehörigen der aktiven Truppe vollständig mit der modularen ballistischen Schutz- und Trageausstattung (Mobast) ausgerüstet sein. 

Erfolge sieht die Wehrbeauftragte weiterhin auch beim Kampf gegen den „Extremismus“ innerhalb der Truppe. Der fordert vor allem den Militärischen Abschirmdienst enorm, da Zehntausende Soldaten jährlich einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen sind. Zusätzlich müssen die Nachrichtendienstler, die vielleicht mit der Spionageabwehr genug zu tun hätten, internen Meldungen von Soldaten nachgehen, die Kameraden anschwärzten. Was dann am Ende tatsächlich herauskommt, ist überschaubar: 177 Sachverhalte in der „Meldekategorie Extremistische Verhaltensweisen, Volksverhetzung und Verstoß gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ waren es 2023 insgesamt.