Die US-Wahlen werfen ihren Schatten voraus, nachdem der ehemalige Präsident Donald Trump sich erneut abfällig über verteidigungsunwillige Nato-Verbündete geäußert hat. Diesen Staaten will er womöglich die US-Unterstützung entziehen – im Falle seiner wahrscheinlicher werdenden Wiederwahl. Nun herrscht Aufregung in der EU, speziell in Berlin, wo die verteidigungspolitischen Defizite augenfällig sind. Dort häufen sich inzwischen staunenswerte Einfälle zur Zukunft der nuklearen Abschreckung in Europa.
Da kommt ein Buch gerade recht, das sich mit „Deutschlands nuklearen Interessen nach dem Ukraine-Krieg“ beschäftigt. Der Autor Karl-Heinz Kamp ist ein Veteran der Nato-Philosophie der erweiterten Abschreckung. Sein zentrales Anliegen: in Deutschland die „nukleare Intelligenz“, also Wissensstand und Akzeptanz der Nato-Abschreckung zu erhöhen, ein altes und legitimes Nato-Ziel. Angesichts der Unbedarftheit jüngster Einfälle deutscher Politiker und selbst von Experten der deutschen Außen-und Sicherheitspolitik sicherlich ein löbliches Unterfangen. Weil, so Kamp zu Recht im Schlußwort, „selbst Parlamentarier in außen- und verteidigungspolitischen Ausschüssen des Deutschen Bundestages die Zusammenhänge von nuklearem Denken und deutschen nuklearen Interessen“ weder kennen noch begreifen und daher die Forderung nach einer „europäischen Nuklearmacht“ erheben.
Informationsvermittlung steht deshalb bei Kamp im Vordergrund, mit der zentralen Frage der erweiterten Abschreckung im Zentrum. Allerdings nimmt der Rückblick auf die Geschichte der Nato-Abschreckung mit 62 Seiten mehr als die Hälfte des Buches ein, „Deutschlands nukleare Interessen heute und morgen“ gerade einmal vier Seiten. Eine Schieflage leider nicht nur quantitativer Natur. Dennoch bietet der Rückblick eine fundierte und gut geschriebene Grundlage und ist als Einführung in die nukleare Thematik sehr zu empfehlen. Und dies nicht zuletzt, weil der ehemalige Präsident der Bundessicherheitsakademie auch mit politisch beliebten, aber verantwortungslosen nuklearen Ideen in Deutschland abrechnet. Zum Beispiel, daß „das französische Atomarsenal die erweiterte Abschreckung der USA nicht ersetzen kann“, weshalb „man unbedingt den regelmäßigen Lockrufen aus Paris widerstehen“ müsse. Denn „daß atomare Abschreckung nur im nationalen Kontext funktioniert, ist (…) Kern französischen nuklearen Denkens“.
Ähnliches gelte auch für „die Illusion einer Europäischen Verteidigungsunion“. Für Kamp steht es dabei fest, daß „Deutschland trotz des offensichtlichen Bedarfs an nuklearer Abschreckung nie nach eigenen Kernwaffen streben“ wird. Daher gebe es „für Deutschland keine Alternative zum amerikanischen Atomschirm – zumindest so lange nicht, wie die USA diesen weiterhin über Europa halten“. Womit wir allerdings wieder bei Trump wären: „Zumindest solange die Führung in Washington zustimmt“ sei „die amerikanische Abschreckung gesichert, gleich ob es Kernwaffen in Deutschland gibt oder nicht“. Schließlich habe „Washington schon 1972 aus Japan und 1992 aus Südkorea alle amerikanischen Atomwaffen abgezogen, ohne seine Schutzgarantie zu widerrufen“. Und dies wurde zu Beginn letzten Jahres mit der Washington-Deklaration noch einmal bekräftigt. Sein Fazit: „In beiden Fällen existiert also die erweiterte Abschreckung auch ohne nukleare Stationierungen.“
Hier beginnen dann aber auch schon berechtigte Fragen. Weniger weil dieser Hinweis Ansatzpunkte für Oskar Lafontaine, Stefan Baron und Rolf Mützenich bietet, von denen jedenfalls die ersten beiden gleich auch noch den konventionellen Abzug der USA aus Europa fordern. Sondern vor allem weil dies die jüngst getroffene deutsche Modernisierungsentscheidung zu Recht in Frage stellt. Hier ist manches ungeklärt, auch bei Kamp. Einerseits ist er wie die Ampelregierung für die Beschaffung von US-amerikanischen F35-Kampfflugzeugen („am besten geeignet“) für die hier stationierten US-Atombomben und verweist auf deren anstehende Modernisierung, andererseits weist er darauf hin, diese würden „mit Sicherheit kaum mehr dem Ideal eines sicheren und zuverlässigen Abschreckungspotentials“ entsprechen, beispielsweise wären „andere, weniger verwundbare Waffensysteme“ wie U-bootgestützte Raketen „viel schlüssiger“. Völlig richtig, aber wen interessiert das noch in Berlin?
Darüber hinaus finden sich bei Kamp auch weitere von der bundesdeutschen Politik ungeklärte offene Fragen, sie betreffen nicht zuletzt die nukleare Proliferation. Zwar weist er darauf hin, daß die Bedeutung von Atomwaffen international „eher wachsen“ werde, so daß „die Zahl der Nuklearstaaten langfristig eher zu- als abnehmen“ dürfte. Daß sich Südkorea und Japan aber rüstungspolitisch längst auf den Weg zu Gegenschlagskapazitäten gemacht haben, auch wenn sie derzeit konventioneller Natur, aber nuklear ausbaufähig sind, wird verschwiegen. Hier wäre ein vertiefter Blick auf diese Entwicklung insbesondere in Ostasien wichtig gewesen.
Seine Kommentare zum Ukraine-Krieg läßt man hier am besten unkommentiert. Widersprechen sollte man ihm aber, wenn er behauptet, „die Rolle als Stationierungsland verleiht Deutschland besonderes Gewicht“. Das ist doch sehr fragwürdig, zumal er zugleich eine damit „immer untrennbar mit Gefahren für die eigene physische Existenz verbundene“ Problematik erkennt, da bei einem möglichen Einsatz „echte Mitentscheidung nicht möglich“ sei: „Kernwaffen sind aufgrund ihrer gewaltigen Zerstörungswirkung geradezu zwangsläufig ‘nationale’ Waffen. Kein amerikanischer oder französischer Präsident und kein britischer Premierminister würde je seine alleinige Autorität über den Waffeneinsatz mit einem anderen Staatsoberhaupt oder Regierungschef teilen.“ Schon gar nicht mit einer EU-Politbürokratie, sollte man hier vielleicht ergänzen.
Allgemeine Verteidigungsfähigkeit ist die Voraussetzung
Alles in allem ist das Buch von Kamp denen zu empfehlen, die sich wirklich ernsthaft mit Fragen der nuklearen Abschreckung beschäftigen wollen. Für „Es kann nicht sein“-Politiker wäre es eine heilsame Belehrung. Auch wenn es sich mehr mit Tagesfragen als mit zukünftigen Entwicklungen beschäftigt. Allerdings können diese Zukunftsfragen nach den nuklearen Interessen Deutschlands zumindest solange nicht im Vordergrund stehen, bis die Bundeswehr wieder verteidigungsfähig ist, und das dürfte wohl schon an die zehn Jahre dauern. Im Auge behalten sollte man die nuklearen Zukunftsfragen allerdings schon.
Karl-Heinz Kamp: Deutschlands nukleare Interessen nach dem Ukraine-Krieg. Nomos Verlag, Baden-Baden 2023, broschiert, 113 Seiten, 29 Euro