© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/24 / 15. März 2024

Kein Platz an der Sonne
Vor 175 Jahren wurde Alfred von Tirpitz, der Schöpfer der deutschen Hochseeflotte, geboren
Matthias Bäkermann

Als „nicht mehr zeitgemäß und traditions- beziehungsweise identitätsstiftend“ wurde auf Weisung des damaligen Inspekteurs der Marine, Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach, im April 2021 der „Tirpitzhafen“, jahrzehntelang einer der zentralen Stützpunkte der Deutschen Marine, amtlich-nüchtern in „Marinestützpunkt Kiel-Wik“ umbenannt, die dortige „Tirpitzmole“ gleich mit. Grundlage dieser Entscheidung war eine nach der Neufassung des Traditionserlasses unter Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen angeordnete „Überprüfung“ vieler Namen, die sich auf die Geschichte vor der Gründung der Bundeswehr beziehen. Als „erinnerungswürdig“ aus der Zeit davor gelten nun nur noch „einzelne Ereignisse, Prinzipien und Personen, die nach wie vor mit heutigen Wertevorstellungen in Einklang stehen“. Der Schöpfer der deutschen Hochseeflotte, Alfred von Tirpitz, der erstmals die Marine in Deutschland zu einem Faktor der militärischen und politischen Strategie machte, gehört  demnach nicht mehr in diesen Kreis.

Das entspricht jenem Zeitgeist, der vielerorts im Auftrag historisch-politischer Dekonstruktion unliebsame Namen tilgt. Im Falle von Tirpitz ist es aber immerhin deshalb überraschend, weil das Urteil über die nach seinem „Tirpitz-Plan“ von 1897 geschaffene Hochseeflotte, ihre Auswirkungen auf das Verhältnis zu England und ihren Anteil am Kriegsausbruch 1914 seit etwa zwanzig Jahren international eine mildere Deutung erfährt. Für deutsche Historiker von Fritz Fischer in den fünfziger Jahren über Michael Salewski bis zu Michael Epkenhans, der heute als einer der intimsten Kenner des Lebens und Werks Alfred von Tirpitz’ gelten darf, bleibt das harte Urteil jedoch nach wie vor bestehen. Tirpitz’ Flottenplanung sei maßgeblicher Faktor des deutschen Anspruchs gewesen, zu den Weltmächten der Jahrhundertwende aufzuschließen und für Deutschland einen „Platz an der Sonne“ zu reklamieren. Daraus resultierte eine deutsch-englische Rivalität, die dieses Verhältnis nachhaltig vergiftete, England in die Armee Rußlands und Frankreichs trieb und letztlich die Weichen hin zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts stellte.

Mehr als 65 Jahre vor diesem tragischen Kriegsausbruch, am 19. März 1849, wird Alfred Peter Friedrich Tirpitz als Sohn einer gutbürgerlichen Akademikerfamilie – der Vater war Gerichtsassessor – in der Festungsstadt Küstrin an der Oder geboren. Das „von“ im Namen sollte der spätere Konteradmiral erst 1900 mit seiner Nobilitierung durch Kaiser Wilhelm II. erhalten. Bereits mit 16 Jahren verläßt der schlechte Schüler das Realgymnasium, um als Kadett in der noch jungen preußischen Marine anzuheuern. Seine seemännische Ausbildung, damals selbstverständlich noch vor dem Mast auf dem Atlantik, absolviert er rasch, in der Marine des Norddeutschen Bundes wird er 1869 nach bestandener Prüfung zum Unterleutnant zur See befördert. 

Der junge Offizier macht in der sich seit 1872 „kaiserlich“ nennenden Marine anfänglich eine eher gewöhnliche Karriere, erst 1878 sollte er als Kapitänleutnant sein erstes Kommando auf dem Fischereischutzschiff „Zieten“ – einem in England gebauten Torpedoschiff – erhalten. Hier entwickelt sich Tirpitz nun rasch zum Experten für die neue Waffentechnik des Torpedowesens. „Mit Fleiß, Ausdauer, Beharrlichkeit, Zielstrebigkeit, schöpferischer Initiative, Organisationstalent, Härte gegen sich selbst und gegen andere (...) hatte er das Torpedowesen in der kaiserlichen Marine technisch und militärisch auf einen für die damalige Zeit beachtlichen Stand gebracht“, mußte selbst der DDR-Historiker Baldur Kaulisch 1982 lobend anerkennen. 

Es dauert nicht lange, da werden höhere Chargen auf den aufstrebenden Marineoffizier aufmerksam. Albrecht von Stosch, Chef der Kaiserlichen Admiralität, sieht sich veranlaßt, höchstselbst eine dienstliche Beurteilung Tirpitz’ lobend zu frisieren: „Kapitänleutnant T. ist ein hervorregend guter und leistungsfähiger Offizier (...), der vorzugsweise Beförderung verdient.“ Diese lassen dann auch nicht lange auf sich warten, schon 1888 wird er Kapitän zur See, 1895 Konteradmiral. 

Abschreckung anderer Seemächte von den deutschen Küsten

Zwischenzeitlich wechselt im Deutschen Reich die Regentschaft. Mit Kaiser Wilhelm II. kommt ein für die Marine besonders aufgeschlossener Monarch an die Macht, der umgehend in die Struktur dieser Teilstreitkraft eingreift. Die Admiralität wird aufgelöst, stattdessen das Reichs-Marineamt und das Oberkommando der Marine gegründet. Als dritte Behörde läßt der Kaiser das für die Personalführung zuständige Marinekabinett einrichten, das ihm direkt unterstellt ist. Dies kommt dem mittlerweiligen Chef des Stabes im Oberkommando Tirpitz zugute. Der Kaiser hatte nämlich den talentierten Taktiker bereits ins Visier genommen. An dessen vorgesetzter Admiralität vorbei wird dieser von ihm persönlich beauftragt, die neue Strategie für eine künftige Hochseeflotte zu entwickeln. Damit ist der Weg für den „Tirpitz-Plan“ geebnet.

Dieses Konzept von 1898 sieht eine sogenannte „Risikoflotte“ vor, die zur Abschreckung anderer Seemächte vor Deutschlands Küsten dienen soll. Zu diesem Zweck erscheint Tirpitz auf lange Sicht ein Verhältnis von zwei zu drei (also 67 Prozent), gemessen an der größten Seemacht (also dem britischen Empire) ausreichend. Richtig Fahrt nimmt die Aufrüstung der Marine aber erst nach Verabschiedung des 2. Flottengesetzes 1902 auf. Linienschiff auf Linienschiff läuft vom Stapel, allerdings bleibt damit die Größe der kaiserlichen Hochseeflotte immer noch weit unter jeder anderen der größeren Seemächte. Zu diesem Zeitpunkt ist die französische Marine deutlich größer, selbst jene des russischen Zaren übertrifft die kaiserliche Marine. Ein „Griff nach der Weltmacht“ (Fischer) ist damit keinesfalls realisierbar, wie später kolportiert. Im Vergleich zu den Marinen der anderen Großmächte steht Deutschland einzig 1906 verhältnismäßig gut da. Das liegt vor allem daran, daß Rußland sich mit seinem Tsushima-Abenteuer während des Russisch-Japanischen Krieges 1905 (JF 7/24) maritim selbst aus dem Spiel nimmt, indem es große Teile der Baltischen Flotte opfert und damit Tirpitz „Risikoflotte“ zumindest an des Reiches langer Ostseeküste zwischen Apenrade und Memel ein geringeres Bedrohungspotential bietet.

Wie bei vielen bundesdeutschen Historikern üblich, die auf eine germanozentrische Sicht eingeschworen sind und internationale Relationen gern aus dem Blick verlieren, mißdeutet auch Ebkenhans im Falle des das deutsch-britische Verhältnis ruinierenden „Rüstungswettlaufs“ Ursache und Wirkung. Der Fokus auf die englische Außen- und Sicherheitspolitik als logische Reaktion auf die Hochseeflotte mißachtet zudem, daß sowohl die Ententepolitik gegenüber Frankreich und Rußland als auch der Bau der Großkampfschiffe auch eigenen, von Deutschland völlig unabhängigen innen- und empirepolitischen Vorgaben folgte. Doch Ebkenhans hält konsequent am Interpretationsmuster von deutscher Aktion und britischer Reaktion fest. Dabei war Tirpitz’ Hochseeflotte zu keinem Augenblick eine reale Gefahr für die Royal Navy, jeder Wettlauf war spätestens mit der Entwicklung der „Dreadnought“-Klasse entschieden. Dieser neue Schlachtschifftyp, den Tirpitz’ Widersacher John Arbuthnot Fisher, Oberster Befehlshaber der Royal Navy, 1906 in Portsmouth vom Stapel laufen ließ, war herkömmlichen Linienschiffen in fast allen Belangen haushoch überlegen.

Auch wenn das Deutsche Reich nach dem „Dreadnought“-Schock mit weiteren Rüstungsanstrengungen zu reagieren versuchte, war in London allen Verantwortlichen bewußt, daß die 1889 geltende Doktrin des „Two-Power-Standards“, wonach die Royal Navy als stärkste Marine der Welt immer mindestens so stark sein sollte wie die zweitstärkste und die drittstärkste Marine zusammen, bis auf weiteres nicht ernsthaft in Gefahr geraten sollte. Das bewies sich dann im Ersten Weltkrieg. Tirpitz’ schimmernde Wehr zur See fand nach der Niederlage ihr Ende in der englischen Internierung auf dem Grund von Scapa Flow. Immerhin erfüllte diese zuvor das ursprüngliche strategische Ziel, Deutschlands Küsten von feindlichen Interventionen freizuhalten. Die vermeintlich zur Beherrschung der Weltmeere geschaffene und damit das britische Empire zum Krieg reizende Hochseeflotte konnte nicht einmal die tödliche Blockade der Briten in der Nordsee brechen. Das hatte Tirpitz übrigens schon früh geahnt. 

Bedrohlich war die Flotte des 1916 als Großadmiral aus dem Dienst scheidenden Tirpitz für England in ganz anderer Hinsicht – als Synonym für die technische Leistungsfähigkeit und die Wirtschaftsmacht, die das Deutsche Reich darstellte. Neuere Studien haben die bereits Ende des 19. Jahrhunderts darüber in Rage versetzen Londoner Clubs und politischen Zirkel als wahre Faktoren des vergifteten Verhältnisses in den Fokus genommen. Deren Einfluß auf die Politik sowohl des Ober- wie des Unterhauses war beträchtlich; auch ein Krieg gegen das aufstrebende Deutsche Reich wurde in jenen Kreisen bereits früh ins Kalkül gezogen.