© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/24 / 15. März 2024

Schlußakkord für das ländliche, konservative Rußland
Hungersnot als Katalysator

Zu Beginn der 1890er Jahre erlebte Rußland eine Hungersnot mit Hundertausenden Opfern. Zugleich ebnete diese humanitäre Katastrophe den Weg des Zarenreiches in die Moderne, wie der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski ausführt (Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2024). Denn das Massensterben warf die Frage nach der Fähigkeit der autokratischen Macht in Sankt Petersburg auf: Könnten Krise solchen Ausmaßes nicht durch demokratische Regierungen verhindert werden? Diese breit geführte Debatte sei die Geburtsstunde der organisierten russischen „Zivilgesellschaft“ gewesen. Plötzlich befreiten sich Bürger und Intellektuelle in den Städten wie in der Provinz von der „Hypnose der chronischen Machtlosigkeit“. Es formierte sich eine von Sozialisten, Sozialrevolutionären und Liberalkonservativen dominierte Gegenöffentlichkeit, die geeint war im „Willen zur rücksichtslosen Industrialisierung des Landes“. Bei aller Tragik sei die Hungersnot somit auch ein geschichtsphilosophischer Schlußakkord für das alte, ländliche und konservative Rußland gewesen, das zum Hauptziel sozialistischer Agitation wurde. Nur die zaristische Regierung schien nicht zu bemerken, wie im vorstaatlichen Raum der Universitäten und Vereine „indirekte Gewalten“ entstanden, die Bildung und Aufklärung als Waffen gegen sie schmiedeten. (dg)  www.chbeck.de