© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/24 / 15. März 2024

Posierender Wiedergänger
Serie Bewegende Köpfe, Teil 8: Der Weg Benito Mussolinis vom Messerstecher über den Sozialisten bis zum italienischen Diktator
Rainer F. Schmidt

Für das Ende seines Abschiedskonzerts von den Berliner Philharmonikern hatte sich Sir Simon Rattle etwas ganz Besonderes ausgedacht. Er brachte eine längst in Vergessenheit geratene sinfonische Dichtung aus dem Jahre 1924 zur Aufführung: die „Pinien der Via Appia“ von Ottorino Respighi. Womöglich wußte der Maestro gar nicht, worauf er sich einließ. Denn das, was er in der Berliner Waldbühne 2018 zum besten gab, war das Lieblingsstück eines Mannes, der dieses Werk immer dann hatte intonieren lassen, wenn er mit großem Gestus einen neuen Erfolg vermelden konnte. Der Schauplatz dieses Historiengemäldes ist eine von Pinienwäldern umsäumte, verlassene Katakombe. Die Pinien sind die Wächter einstiger Glorie: jene des untergegangenen Römischen Reiches. Umringt von Soldaten und ins Licht einer gleißenden Morgensonne getaucht, steigt aus der Tiefe der Gruft ein Centurio empor, der seine Soldaten mit Trompetenfanfaren nach Rom führt und dort die vergangene Größe Italiens wiederaufleben läßt.   

Diese musikalische Szenerie wurde zur Allegorie seiner Berufung. Benito Mussolini sah sich in der Rolle dieses römischen Heroen. Er verkörperte das Pathos des einstigen Ruhms. Und er knüpfte an diese untergegangene Welt an. Es war daher nur ein Schönheitsfehler, wenn er Rom nicht an der Spitze einer Armee eroberte. Er reiste während des berühmten „Marsches auf Rom“ 1922 ganz unprätentiös mit der Bahn an.  

Fast jeden Morgen um sieben stand er auf dem Fechtboden, wo er in wilder Attacke die sich zum Kampf stellenden Gegner zu Boden zwang. Ausfahrten im Automobil unternahm er oft mit einem Löwen auf dem Beifahrersitz, den ihm ein Zoodirektor einst geschenkt hatte. Als notorischer Schürzenjäger war keine Frau sicher vor ihm. Neben seiner Ehe unterhielt er eine lebenslange Beziehung zu der Arzttochter Clara Petacci, die ihm bis zum gemeinsamen Tode 1945 nicht von der Seite wich. Er verführte mindestens 400 weitere namenlose Gefährtinnen in einem als „Erholungsraum“ titulierten Zimmer seines Amtssitzes. 

Bei jeder Gelegenheit posierte er mit herrischer Geste, streckte seinen markanten Unterkiefer in die Höhe und verströmte mit rauchiger, gutturaler Stimme ein Charisma, das die Leute in den Bann schlug. Als abgehalfterter Volksschullehrer hatte er eine feine Witterung für die Wünsche der Massen, und als ehemaliger Chefredakteur einer prominenten sozialistischen Zeitung verstand er sich darauf, ihre kollektiven Sehnsüchte aus den tiefen Sphären des emotionalen Empfindens in betörende Worte zu fassen.

Geboren wurde dieser Volkstribun am 29. Juli 1883 nicht etwa dort, wo große Karrieren reifen. Er wuchs als Sohn eines Schmieds und einer Grundschullehrerin in Predappio, einem abgelegenen 2.000-Seelen-Nest im dortigen Dorfschulhaus auf. Sein Vater, ein glühender Sozialist, impfte ihm einen revolutionären Syndikalismus ein, wonach die Gewerkschaften durch Generalstreiks die Produktionsmittel in die Hände der Arbeiter überführen sollten. Die Mutter legte den Grundstein für das, was man Bildung nennt. Sie verschaffte dem begabten Sohn einen Platz auf der Internatsschule der Salesianer und sorgte dafür, daß er, trotz einer Messerstecherei, die ihm die Relegation einbrachte, es doch noch auf einer staatlichen Institution zum Diplom brachte. Aber das Dasein als Grundschullehrer langweilte ihn unendlich. Nach einem mehrjährigen Exil in der Schweiz, mit dem er dem Militärdienst entkam, begann 1910 sein Aufstieg in der sozialistischen Partei. Nicht als ihr intellektueller Vordenker, sondern als ihr rhetorisches Aushängeschild. Dies war sein Sprungbrett zu einer landesweit bekannten Figur. 

Wenn aus dem Sprücheklopfer, Raufbold und Weiberheld dann tatsächlich ein Beweger der Massen wurde, so war dies mehr den Umständen als seiner politischen Befähigung zu verdanken. Der Erste Weltkrieg, den er vehement befürwortete, hatte, wie er sagte, nur zu einem „verstümmelten Sieg“ geführt. Sein Heimatland war in Chaos, Streik und Anarchie versunken. Und plötzlich galt er mit seiner straff organisierten Kaderarmee aus enttäuschten Kriegsteilnehmern als der Mann der Stunde.

23 Jahre lang hielt er die Macht in seinen Klauen, zeitweise als achtfacher Minister fast in Alleinregierung. In dieser Zeit erwies er sich als wahrer Aktenfresser. Nach eigenem Bekunden bearbeitete er persönlich knapp 1,9 Millionen bürokratische Vorgänge. Darunter waren viele triviale Einzelheiten, wie die Anzahl der Knöpfe auf den Uniformen, die Baumschnitte auf den Landstraßen und die Spielzeiten für Orchester in den großen Städten. Darunter waren aber auch imponierende Modernisierungsleistungen, wie der Bau einer tunnelreichen Ringstraße um den Gardasee oder die Trockenlegung der Maremma, eines riesigen, malariaverseuchten Sumpfgebietes, in dem ganze Heere mittelalterlicher Kaiser einst ihr Leben gelassen hatten. Vor allem aber raffte er ein ganzes Imperium zusammen, ließ die Menschen in den eroberten Ländern reihenweise mit Bomben und Giftgas massakrieren, lieferte die Juden seines Landes ans Messer und war für den Tod von rund einer Million Menschen verantwortlich.           

Als alles vorbei war, wollte er sich wie einst einfach davonmachen. Aber kurz vor dem Kriegsende, das er als kasernierter Herrscher von Hitlers Gnaden in Salò am Westufer des Gardasees erlebte, wurde er zusammen mit seiner Geliebten und 15 Begleitern von kommunistischen Partisanen aufgegriffen und nach einer improvisierten „Gerichtsverhandlung“ erschossen. An seiner Leiche entlud sich deren Haß, als man sie an einer Tankstelle auf dem Piazzale Loreto vor dem Mailänder Dom kopfüber aufhängte und öffentlich zur Schändung freigab. 

Wer freilich meinte, damit seien er und sein Erbe erledigt, der täuschte sich. Noch heute geistert er wie ein Untoter durch Italien. Sein posthum veröffentlichter Nachlaß an Reden und Schriften umfaßt 44 dicke Folianten. Sein pompöses Grab in seinem Heimatdorf wurde zur Pilgerstätte, mit Ergebenheitsadressen vieler Städte und Gemeinden des Landes. Sein Andenken halten dort Devotionalienläden wach, wo man Feuerzeuge und Weinflaschen mit seinem Konterfei erwerben kann. Und die Villa seiner erst 1979 gestorbenen Witwe unweit von Forli wurde zum Ehrentempel ausstaffiert. Das Bild vom „tragischen Held“, vom „guten Onkel“, der als paternalistischer Sachwalter nichts Schlimmeres getan habe als „Grimassen zu schneiden“, hat ihn bis heute überlebt. 


Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.