© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/24 / 15. März 2024

Belletristin oder Bellizistin?
Kino II: „Miller’s Girl“ ist die überfällige Regenbogen-Variante von Vladimir Nabokovs Klassiker „Lolita“. Doch dem Film fehlt ein echter Clou
Dietmar Mehrens

Im vorigen Jahr gab eine Studie der DAK Auskunft darüber, wie massiv hierzulande die Zahl der psychischen Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen gestiegen ist. Besonders bei Mädchen haben Angst- und Identitätsstörungen ebenso wie Depressionen rapide zugenommen. Auch die Angst, von einer solchen Erkrankung betroffen zu sein, breitet sich aus. Da kommt ein Vorbild wie Cairo Sweet (Jenna Ortega), die Hauptfigur von „Miller’s Girl“, wie gerufen, um das ramponierte Selbstwertgefühl etwas aufzumöbeln. Cairo heißt nämlich nicht nur Sweet, sie sieht auch so aus. Im Grunde ist sie die ideale Verkörperung dessen, wie junge Mädchen, die die Pubertät gerade mit den üblichen Orientierungsverlusten und Kratzern hinter sich gebracht haben, zu sein wünschen: selbstsicher, sexy und auf Zack.

Die von ihren Eltern allein gelassene Studentin wohnt in einer einsam gelegenen Villa in der Walachei, getrennt von der Zivilisation durch einen dunklen Wald. Ob sie sich nicht fürchte, wenn sie diesen allein durchwandere, fragt sie eines Tages ihr Literaturlehrer Jonathan Miller (Martin Freeman). Wieso? „Das gefährlichste darin bin ich“, erwidert das kesse Mädchen. Sie ist gerade wie ein Anti-Rotkäppchen aus dem Wald gekommen, hat entschlossenen Schritts das Schulsportgelände überquert und steht nun, neckisch angezogen und im Flirtgestus agierend, vor Miller und dessen schwarzem Kollegen Boris Fillmore (Bashir Salahuddin). Und damit hat sie im Grunde den Rest der Handlung vorweggenommen: Die Studentin wird sich nämlich zu einer beträchtlichen Gefahr für ihren Literaturlehrer entwickeln, indem sie sich erstaunlich hemmungslos an ihn heranschmeißt. Die Strategie, die sie dafür gewählt hat, die hat es allerdings in sich.

Henry Millers Werke galten

als jugendgefährdende Schriften

Schon zu Beginn des Films hat die Heldin als Erzählerin ihrer eigenen Geschichte angekündigt, daß sie der Langeweile ihres Daseins in dem stillen Anwesen zu entrinnen wild entschlossen ist: „Heute wird alles anders. Heute treffe ich einen Autor, einen Professor.“ Sie belegt „Kreatives Schreiben“ bei Jonathan Miller, der tatsächlich früher mal ein mäßig erfolgreiches Prosawerk veröffentlicht hat, das die Literaturverliebte natürlich gelesen hat. Und so ist ihre Bitte, ihre Zwischenprüfung bei ihm schreiben zu dürfen, ein Selbstgänger.

Allzu gern läßt sich Miller von der attraktiven Dunkelhaarigen anschmeicheln. Und hochbegabt, findet er, ist sie auch. Der Aufsatz, den er ihr zur Aufgabe macht, soll die Variation eines von ihr geschätzten Autors sein. Cairo wählt ausgerechnet den für seine exzessiv pornographischen Schriften berühmten Henry Miller. Statt sich aber lediglich an dessen Stil zu orientieren, wie es ihr Dozent vorgesehen hat, verfaßt Cairo ihre Version von Henry Millers Unzuchtsorgie „Unter den Dächern von Paris“ und läßt als einander erotisch Verfallende, nur ungenügend verfremdet, sich selbst und ihren Lehrer auftreten.

Der arglose Literaturprofessor findet sich unversehens in einer Liebesintrige wieder, als er nicht, wie von seiner Studentin erhofft, auf ihr literarisches Liebeswerben eingeht: Die Belletristin wird zur Bellizistin und fabriziert nach der ihr zugemuteten Enttäuschung eine Version der Entstehungsgeschichte ihrer Henry-Miller-Variation, die schockieren dürfte, und zwar sowohl die College-Direktorin als auch Millers allzusehr dem Alkohol zusprechende Ehefrau. Da kommt was zu auf den Literaturexperten, der eigentlich nur Begabtenförderung betreiben wollte … 

Ein nicht gerade neues Thema, das Jade Bartlett hier zu einem Drehbuch verarbeitet hat. Neben Philip Roths „Der menschliche Makel“ (2000) und „Das sterbende Tier“ (2001) läßt von ferne Vladimir Nabokovs legendäre „Lolita“ grüßen, gleichsam die Mutter aller Alter-Mann-und-junges-Ding-Geschichten. Wurde die Figur der Lolita doch nach dem Erscheinen des Skandalromans 1955 zum Synonym für die verführerische, frühreife Frau – als brisante Variante des Femme-fatale-Typus.

Neues und wirklich Originelles konnte Bartlett dem Stoff indes nicht abgewinnen. Ihr Film ist nämlich ein für US-Filmemacher aus dem linksliberalen Bildungsbürgertum wahrlich nicht besonders atypisches Spiel mit den Gegenständen der eigenen Schul- und Universitätskarriere. Dazu gehört, gerade in denjenigen Kreisen, die sich irgendwas zwischen Liberalismus und Libertinage auf ihre Fahnen geschrieben haben, natürlich auch Henry Miller, dessen Werke hierzulande in der Ära Kohl noch auf dem Index für jugendgefährdende Schriften standen. Jugendgefährdend ist Jade Bartletts Spiel mit philologischen Versatzstücken zwar gerade nicht, aber leider auch nicht sehgewohnheitsgefährdend. Die Regisseurin setzt pflichtschuldig ihre Diversitäts- und Vielfaltshäkchen und läßt dazu die überambitionierte Literaturstudentin und ihre Freundin (die es übrigens auf Fillmore abgesehen hat) auch mal eben die sexuelle Identität wechseln.

Trotz des durchaus originellen und feinsinnig ausgeführten Ansatzes, literarische Fiktion und Lebenswirklichkeit miteinander zu verweben, stellenweise auch verschmelzen zu lassen, fehlt Bartletts Drehbuch ein Clou diesseits der akademischen Metaebene, auf der das (gebildete) Publikum sich zur eigenen Erbauung die referentiellen Versatzstücke zusammenpuzzeln kann.

Ein Hingucker ist natürlich Hauptdarstellerin Jenna Ortega als Cairo Sweet, bei der man keine Sekunde das Gefühl hat, daß sie sich für ihre Rolle groß umstellen mußte. Doch so zwiespältig wie der Charakter der Protagonistin ist auch der Gesamteindruck, den „Miller’s Girl“ hinterläßt – und hilft somit bei Identitätsstörungen gewiß wenig.