© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/24 / 15. März 2024

Kleists Gebrauchstexte für den patriotischen Widerstand
Kunst des verdeckten Schreibens

Obwohl sie nach Format und Umfang eher Flugzetteln ähnelten, gelten die Berliner Abendblätter, die Heinrich von Kleist vom Oktober 1810 bis zum März 1811 herausgab, als eine der ersten deutschsprachigen Tageszeitungen. Bis in die 1990er beschäftigte sich die literaturwissenschaftliche Forschung jedoch wenig mit ihnen. Seitdem aber mehren sich Untersuchungen, die Kleists literarisches und journalistisches Schreiben in engem Zusammenhang sehen und kategorische Trennungen zwischen „hoher Literatur“ und „Gebrauchstext“ hinterfragen. Vor allem deswegen,  weil Kleist viele Nachrichten derart bearbeitete, daß sie an der Zensur vorbei, „zwischen den Zeilen“, als „delegitimierende“ Kritik an Kaiser Napoleon I. und dem vom französischen Besatzungsregime definierten „Staatswohl“ Preußens zu lesen waren. Nur dank dieser publizistischen Partisanenlist konnten die Abendblätter für kurze Zeit als Organ des patriotischen Widerstands überhaupt öffentlich wirken. Kleist stand dabei allerdings nicht, wie der Literaturhistoriker Reinhold Steig in seinem Pionierwerk über dessen „Berliner Kämpfe“ (1901) behauptete, im Lager des konservativen märkischen Adels, der zwar auch für den nationalen Befreiungskrieg, aber gegen den liberalen Kurswechsel agitierte, sondern auf seiten der Stein-Hardenbergschen Reformer. Deren Protektion verlor er, nachdem die Abendblätter, wie der promovierte Germanist Walter Kühn (Uni Koblenz-Landau) in seiner Studie über Kleists „verdecktes Schreiben“ ausführt (Wirkendes Wort, 3/2023), einen gegen die Reformen gerichteten Beitrag des erzkonservativen Staatstheoretikers Adam Müller aufgenommen hatten. (wm)  www.wvttrier.de/c/zeitschriften-jahrbuecher