© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/24 / 15. März 2024

Nach uns die Sintflut
Rentensystem: Der Lindner-Heil-Pakt kann die Rente nicht retten, es droht eine Konkursverschleppung / Private Vorsorge wird vom Staat torpediert
Paul Rosen

Wer sich bei der Altersvorsorge auf den Staat verläßt, ist verlassen. Das bestätigt niemand geringeres als die Bundesregierung, indem sie in ihrem Rentenversicherungsbericht 2023 gleich auf Seite 9 feststellt: „Der Rückgang der Sicherungsniveaus vor Steuern bis zum Jahr 2030 macht deutlich, daß für die Versicherten Handlungsbedarf besteht, die Einkommen im Alter zu verbessern.“

Aus dem verquasten Deutsch der Sozialpolitiker übersetzt heißt das: Die Zahlung aus der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) wird keinesfalls reichen. Aber derselbe Staat, der zur privaten Vorsorge aufruft, torpediert die Anstrengungen seiner Bürger mit Abgaben und Steuern und läßt zu, daß sich Riester-Anbieter die Taschen mit Provisionen vollstopfen, so daß sich auch Riestern nicht lohnt. Das ganze Altersvorsorgesystem steht in Flammen.

Um die Flammen wenigstens an einigen Stellen zu löschen, stellten Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) einen gemeinsamen Plan vor. Danach soll das Renteneintrittsalter nicht stärker als geplant erhöht werden und das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent des Durchschnittslohns sinken. Berechnet worden war bereits ein Absinken auf 45 Prozent, weil aufgrund der Rentenformel (vereinfacht ausgedrückt) das Rentenniveau sinkt, wenn die Zahl der Rentner massiv steigt. Das ist derzeit der Fall, weil die Generation der „Babyboomer“ in Rente geht und wegen „der Rente ab 63“. Zusätzlich soll ein in Aktien anzulegendes „Generationenkapital“ einen zu hohen Anstieg der Rentenversicherungsbeiträge verhindern.

Heil und Lindner legen ein Verhalten an den Tag, das in der Politik gang und gäbe ist: Sie schlossen einen Vertrag zu Lasten Dritter. Heil denkt an die Wählerklientel der SPD, die besonders von Älteren und Rentnern gewählt wird. 60 Prozent der Wähler sind 50 Jahre alt oder älter. Rentenfragen sind für sie besonders wichtig. Ihnen soll mit einem Festhalten an einem Rentenniveau von 48 Prozent eine Stabilität des Systems vorgegaukelt werden. Unterschlagen wird, daß das Rentenniveau früher viel höher war, 1977 etwa knapp 60 Prozent. Und während die 60 Prozent steuerfrei waren, werden auf die heutigen 48 Prozent bei Neurenten von Jahr zu Jahr mehr Steuern fällig, was allerdings beide Minister zu erwähnen vergaßen.

Neue Staatsschulden für das Rentenrettungs-Aktiendepot

Lindner will mit privatem Kapital neue Reserven für die Rentenversicherung heranführen. Dies soll ein Stimulans für die Rest-Wählerschaft der FDP sein, der suggeriert werden soll, privat sei besser als Staat. Da ist etwas dran, allerdings nicht, wenn Lindner im Spiel ist. Er will sich das Geld für das gigantische Rentenrettungs-Aktiendepot auf dem Kapitalmarkt leihen – jedes Jahr zehn Milliarden Euro. Netter Nebeneffekt für den als Lordsiegelbewahrer der Schuldenbremse auftretenden Lindner: Auf die Bremse werden die Aktienschulden nicht angerechnet. Tatsächlich ist das schuldenfinanzierte Depot aber ein Verstoß gegen eine der wichtigsten Anlageregeln, nämlich niemals Wertpapiere auf Kredit zu kaufen.

Verwaltet werden soll das Vermögen durch eine Stiftung, deren Investitionsgremium vermutlich mit Kräften der Zivilgesellschaft besetzt werden wird. Damit dürften Investitionen in Tabak, Alkohol, Rüstung, Öl, Kohle, Atom, weite Teile der Chemie, Auto, Luftfahrt und Künstliche Intelligenz ausgeschlossen sein – also Investitionen genau in den Bereichen, in denen Geld verdient wird. In Deutschland bleiben dann vielleicht noch Biontech, HelloFresh und Zalando übrig – nicht gerade die Brummer des Marktes. Da die Stiftung zuerst die Kreditzinsen für die aufgenommenen Schulden zahlen soll, ehe sie von den erhaltenen Dividenden die Rentenkasse stützen kann, dürfte ihr Beitrag zur Rettung der Rente sehr bescheiden ausfallen.

Für den Ökonomen Marcus Fratzscher ist Lindners Behauptung, das Generationenkapital sei primär im Interesse der jungen Generation, „Zynismus“. Denn der belastete Dritte beim Lindner-Heil-Vertrag ist gerade die junge Generation. Sie hat eine Erhöhung des Rentenversicherungsbetrages von heute 18,6 auf den historischen Höchststand von 22,3 Prozent im Jahr 2034 zu tragen. Damit schmilzt das Nettogehalt dahin, und es wird die Möglichkeit reduziert, das miserable Rentenniveau durch private Vorsorge erhöhen zu können. Von einer „Kriegserklärung an die Arbeitnehmer“ schrieb die Neue Zürcher Zeitung.

Vor 60 Jahren mußten sechs Arbeitnehmer für einen Rentner aufkommen. Heute müssen zwei Arbeitnehmer über ihre Beiträge für einen Rentner sorgen. Das ist Folge des Geburtenrückgangs. Hier kann nichts mehr rückgängig gemacht werden. Die für ein stabiles System notwendigen Kinder wurden nie geboren. Das System wurde bisher nur durch massive Zuschüsse aus der Staatskasse vor dem Zusammenbruch gerettet. Von den 359,5 Milliarden Ausgaben des Rentensystems im Jahr 2022 kamen 75,9 Prozent aus Beiträgen der Versicherten und 23,8 Prozent vom Steuerzahler. Was Lindner und Heil in Wirklichkeit betreiben, ist Konkursverschleppung. Denn nach Berechnungen des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) fehlen trotz der Einigung 34 Milliarden Euro.

In anderen Bereichen sieht es nicht besser aus, etwa bei den Kosten für die Versorgung ehemaliger Beamter. 2020 mußten 65,5 Milliarden Euro für deren Pensionen ausgegeben werden. Im kommenden Jahr sollen es 81,3 Milliarden Euro sein. Der Renten-Experte Bernd Raffelhüschen fordert einen weitgehenden Stopp neuer Verbeamtungen, „sonst droht der Finanzkollaps der Bundesländer“.

Die Beamten-Pensionäre konnten sich bisher am wenigsten beklagen. Ihre (steuerpflichtigen) Pensionen übertreffen das Rentenniveau. Im amtlichen „Bund-Länder-Demographie-Portal“ wird die durchschnittliche Beamten-Versorgung für Männer mit 3.280 Euro im Monat angegeben, die für Frauen mit 2.290 Euro. Rentner erhalten erheblich weniger. Der durchschnittliche Rentner-Mann erhält eine Rente von 1.430 Euro, die durchschnittliche Rentnerin von 1.110 Euro. Was Beamte nicht haben, sind Einkommen aus betrieblicher Altersversorgung, die bei Männern im Durchschnitt mit 660 Euro angegeben wird und bei Frauen mit 330 Euro. Wer Arbeiter oder Angestellter im öffentlichen Dienst war, bekommt keine Betriebsrente, sondern Geld aus einer Zusatzversorgung: Männer in Höhe von 460 Euro, Frauen in Höhe von 290 Euro monatlich.

Massive Umverteilung von unten nach oben bei Betriebsrenten

Es gibt 21,7 Millionen Anwartschaften auf Betriebsrenten. Und dagegen ging der Staat besonders brutal vor: Um die ebenfalls angeschlagenen Krankenkassen und Pflegeversicherungen zu sanieren, wurde eine Beitragspflicht auf Betriebsrenten (steuerpflichtig waren diese bereits) eingeführt, was die Zusatzversorgung um fast ein Fünftel reduzierte, denn im Gegensatz zur gesetzlichen Rente (etwa halber Beitrag) wird hier der volle Beitragssatz kassiert. Nach massiven Protesten wurde ein Freibetrag eingeführt. Außerdem gibt es eine massive Umverteilung von unten nach oben: Wer privat krankenversichert ist (im Regelfall Besserverdiener), muß von seiner Betriebsrente keine Beiträge entrichten.

Es handelt sich bei den Rentenangaben um Durchschnittswerte. Und was Durchschnittswerte bedeuten, weiß der Volksmund: Die eine Hand in einen Eiskübel legen und die andere auf eine heiße Herdplatte, ergibt eine angenehme Durchschnitts-temperatur. Denn zur Wahrheit über die Höhe der Altersrenten gehört, daß von den Männern 29 Prozent unter 900 Euro im Monat erhalten, bei den Frauen sogar 60 Prozent. 83 Prozent der Frauen erreichen keine 1.200 Euro Rentenhöhe, von den Männern sind es 45 Prozent.

Da wird dann zur privaten Vorsorge geraten, zum Riestern etwa. Verbraucherschützer haben längst nachgewiesen, daß von den in Riester-Renten eingezahlten Beträgen etwa ein Viertel als Kosten und Gebühren an Banken und Versicherungen fließt. „Für die Altersvorsorge steht dieses Geld nicht mehr zur Verfügung“, kritisiert die „Bürgerbewegung Finanzwende“. Riestern (es gibt 16 Millionen Verträge) ist ein riesiges Geschäft – aber nur für die Finanzindustrie. Die Bürger haben längst gemerkt, daß sich Riestern nicht lohnt. Das Neugeschäft mit Riester-Verträgen sei „dramatisch“ eingebrochen, klagt die Versicherungswirtschaft. Die Attraktivität von privaten Lebensversicherungen war von der Regierung bereits 2005 durch Einführung einer Steuerpflicht auf die Erträge drastisch reduziert worden.   

Es bleibt die private Vorsorge, also das Investieren auf eigene Faust, was zuletzt durch neue Anlageformen wie „Exchange Traded Fund“ (ETF) beliebter wurde. Hier verhindert ausgerechnet der FDP-Finanzminister die volle Wirkung des wichtigen Zinseszins-Effekts, indem er keine steuerfreien Vorsorgekonten (wie in den USA) zuläßt, auf denen Erträge gesammelt und dann wieder angelegt werden können. Statt dessen werden von jeder noch so kleinen Dividende 25 Prozent Kapitalertragsteuer, Solidaritätszuschlag und gegebenenfalls Kirchensteuer einbehalten. Eine von Lindner gefeierte Erhöhung des Sparerfreibetrags von 801 auf 1.000 Euro bewirkt so wenig, daß der Finanzexperte Christian W. Röhl von einer „Verhöhnung aller Vorsorgesparer“ spricht.