© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/24 / 15. März 2024

Gängs im Ländle
Peter Freitag

Ohne sein Geständnis hätte Shariar K. wahrscheinlich mindestens 15 Jahre ins Gefängnis wandern müssen. So aber verurteilte ihn das Landgericht Stuttgart vergangene Woche „nur“ zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe. Noch ist der Schuldspruch nicht rechtskräftig. Im Juni 2023 hatte der 24jährige Kurde, der aus einer iranischen Kleinstadt stammt, auf dem Friedhof der Gemeinde Altbach bei Göppingen eine Handgranate jugoslawischer Bauart auf die Teilnehmer einer Beerdigung geworfen. Nur weil die mit etwa 3.000 Stahlkugeln gefüllte Waffe an einem Ast abgeprallt war und auf einer freien Fläche landete, blieb es bei 15 zum Teil schwer Verletzten. Wäre die Granate inmitten der Trauergemeinde explodiert, hätte es mit Sicherheit mindestens 20 Tote gegeben. 

„So etwas ist im Großraum Stuttgart noch nie oder zumindest noch nicht oft da gewesen“, stellte der Oberstaatsanwalt in seinem Schlußplädoyer beim Prozeß fest. Die Wahnsinnstat, zu deren Hintergründen der nun verurteilte Mann vor Gericht schwieg, stellte den bisherigen Höhepunkt der gewaltsamen Auseindersetzungen zwischen zwei verfeindeten Banden dar, der seit 2022 im Großraum Stuttgart tobt und bundesweit für Schlagzeilen sorgt. Die Trauergesellschaft auf dem Friedhof von Altbach soll zu der einen Bande gehört haben; Handgranaten-Werfer Shariar K. habe sich damit möglicherweise bei der rivalisierenden Gang einen Namen machen wollen, vermuten Beobachter der Szene.

Lokaler Schwerpunkt der einen kriminellen Gruppe seien die Städte Esslingen, Plochingen und Ludwigsburg; ihre nicht minder strafrechtlich in Erscheinung tretenden Konkurrenten sind offenbar im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen beziehungsweise in Göppingen beheimatet. Gemeinsam ist beiden Gruppierungen, daß sie überwiegend aus jungen Männern mit Migrationshintergrund bestehen. Der harte Kern ist – wie K. – kurdischer Herkunft. Doch die Banden machen nicht nur mit Gewalttaten, sondern auch mit martialischen Aufmärschen von sich reden, die gefilmt und dann im Netz verbreitet werden. Zuletzt zog eine Horde durch Stuttgarts Stadtteil Vaihingen und skandierte dabei das türkische Wort „Intikam“, zu deutsch Rache.

Mehr als 500 Mitglieder hätten die Banden, sind Ermittler der Polizei überzeugt. Die nahm seit Ende 2022 inzwischen rund 56 Tatverdächtige fest und durchsuchte eine Vielzahl von Wohnungen und Shisha-Bars. Bei 2.500 Personenkontrollen und 138 Durchsuchungen seien 115 Waffen sichergestellt worden, darunter 24 Schuß-, darunter auch Kriegswaffen, teilte Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) jüngst mit. Man werde die „subkulturelle Gewaltkriminalität mit einem langen Atem und größter Entschiedenheit weiter erfolgreich bekämpfen“. Mittlerweile hat das Landeskriminalamt die Ermittlungen übernommen. 135 Beamte seien dafür eingesetzt, den Fahndungsdruck gegen die Köpfe der kriminellen Gruppen auszuweiten, so LKA-Präsident Andreas Stenger. 

Das Stuttgarter Urteil sei ein „wichtiges Zeichen des Rechtsstaates“, heißt es im Innenministerium. Weitere Verfahren werden wohl folgen. Doch die Staatsanwälte tappen oft im dunkeln. Denn bei aller Rivalität: Vor Gericht schweigen beide Banden.