© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/24 / 08 März 2024

Über Länder, Grenzen, Zonen
Der irische Historiker Brendan Simms über die Renaissance des Großraumdenkens als Reaktion auf den Unilateralismus
Eberhard Straub

In einem Artikel des damals recht einflußreichen Magazins Life schrieb im Februar 1941 dessen Herausgeber Henry Luce, daß Tyranneien möglicherweise einen großen Lebensraum bräuchten, „aber die Freiheit braucht und wird weitaus mehr Lebensraum brauchen“. Denn Freiheit kann nicht von Dauer sein, außer  sie umfaßt einen sehr großen Teil der Welt. Daran erinnert Brendan Simms in seiner Berliner Carl- Schmitt-Vorlesung vom Oktober 2023 zur lebhaft diskutierten Frage, inwieweit mehrere Großräume die Voraussetzung bilden könnten, um zu einem neuen Gleichgewicht in der Welt zu gelangen. „Der Westen“ unter der Führung der USA und der Nato, der sich als Inbegriff der „freien Welt“ und „der Menschheit“ mitsamt ihrer „Menschenrechte“ begreift, hält sich für berechtigt, überall auf der Welt intervenieren zu dürfen. 

Sieht diese „Wertegemeinschaft“ ihre auf Regeln beruhende Ordnung durch Staaten herausgefordert, die sich nicht mehr den von der führenden Macht aufgestellten Regeln zum Vorteil ihrer Vorherrschaft fügen wollen, weil ein solcher Eingriff in den Status quo für sie nur mit Nachteilen verbunden ist, soll sie sich entschlossen gemäß ihres Sendungsbewußtseins gegen solche Regelverstöße zur Wehr setzen und ihre Gefolgschaft um sich scharen, um eine Strafaktion erfolgreich „durchführen“ zu können. „Der Westen“, obschon ein Bollwerk der Demokratie, reiht sich in die Tradition ein, in einer Universalmonarchie die Welt friedlich zu ordnen. In solchen Versuchen sahen die Europäer, wie sie früher oftmals beteuerten, einen Anschlag gegen ihre Freiheit, den sie jeweils erfolgreich zu vereiteln vermochten. 

Großraum mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte

Gerade deshalb mahnte George Washington 1796 in seinem politischen Testament die Vereinigten Staaten, sich aus den Intrigen der korrupten europäischen Staaten herauszuhalten und wegen ihrer Nichteinmischung in deren Unordnung von den Europäern verlangen zu können, die westliche Hemisphäre als einen ganz eigenen Großraum zu achten, in dem sie nichts zu suchen hatten und sich ihrerseits nicht einmischen durften. Was Carl Schmitt 1939 suggestiv in einer Formel zusammenfaßte: „Der Großraum mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, war in der Monroedoktrin vom Dezember 1823 durch die USA als Grundsatz verkündet worden. Die Europäer versuchten nie die Doktrin ‘Amerika den Amerikanern’ anzuzweifeln oder außer Kraft zu setzen. Freilich antworteten sie auf die amerikanische Devise mit der von ihr abgeleiteten: ‘Europa den Europäern’.“ 

Es waren zuerst Deutsche, die schon im 19. Jahrhundert gründlich an einen europäischen Großraum dachten. Der Kern eines besonderen europäischen Großraums sollte Mitteleuropa sein, das vom Deutschen Reich und Österreich-Ungarn aus als Ordnungsmacht ausstrahlte und in recht unterschiedlichen Kombinationen mit den befreundeten Völkern und Staaten wie den von ihnen abhängigen den Frieden erhielt oder neu organisierte. Den entscheidenden Feind eines europäischen Großraums, in dem die Europäer souverän über sich selbst bestimmten, erblickten sie in Großbritannien und nach einigem Zögern in den USA, die spätestens 1917 die Politik der Distanz zu Europa aufgaben, um auf jeden Fall ein von Mitteleuropa aus vereinigtes, ein „deutsch“ beherrschtes Europa als Groß- und Weltmacht zu verhindern.

Die Monroedoktrin wurde endgültig von Präsident Franklin D. Roosevelt in den Hintergrund gedrängt zugunsten eines totalen Interventionsrechtes, um den totalen Frieden durchsetzen, wie ihn sich die angelsächsischen Friedensaktivisten spätestens seit 1942 vorstellten. Sie rechtfertigten ihre Kriege vorzugsweise als humanitarian interventions gegen Tyrannen und Feinde des Menschengeschlechts, das die USA, den wahren Repräsentanten der Menschheit, dazu privilegierte, ihre Interessen für identisch mit denen der Menschheit ausgeben zu dürfen. Gegen diesen Anspruch richteten sich die jeweiligen Entwürfe zu einer Weltordnung, die sich im Wettbewerb konkreter Räume entwickelte im Gegensatz zum angelsächsischen Universalismus und dem damit verbundenem, unvermeidlichen Aufgehen in der alles vereinheitlichenden Amerikanisierung als Humanisierung der Menschheit. 

Brendan Simms bemüht sich sorgfältig, nicht in den Verdacht zu geraten, in seiner Treue zur westlichen Ideologie schwankend zu werden. Aber er will doch zumindest verstehen, wonach die Verfechter einer Kombination von Großräumen strebten. Adolf Hitler hatte weder als Parteiführer noch später als Reichkanzler den Ehrgeiz, die Amerikaner in ihrer Hemisphäre anzugreifen. Er wollte sie weiterhin auf die Monroedoktrin verpflichten mit ihrem Grundsatz „Amerika den Amerikanern“ darauf bedacht, ihren Lebensraum vor Eingriffen von Störenfrieden zu schützen, aber gerade deshalb, in Einklang mit ihrer Überlieferung, wie eh und je dazu entschlossen, sich aus europäischen Angelegenheiten herauszuhalten und Europa den Europäern zu überlassen, die gegebenenfalls unter Berufung auf die gleichen Prinzipien wie die USA raumfremde Mächte von ihrer Rechts- und Machtsphäre fernhalten müssen. Hitler, aber auch Carl Schmitt, argumentierten gegenüber den USA und Großbritannien vorzugsweise als Europäer, um die Selbstständigkeit ihrer Alten Welt unter universalistischem Druck zu behaupten. Dieses Urteil wird viele Leser erst einmal überraschen wie auch die Auffassung, daß Japans Großraumidee in Asien die deutsche und italienische ergänzte, der sich französische Kollaborateure anschlossen, um nicht unter die transatlantischen Räder zu gelangen. 

Rußland spielte in dem großen Spiel der politischen Ordnungsentwürfe keine entscheidende Rolle, wie Brendan Simms resümiert, der auf eine gewisse geistige Unabhängigkeit bedacht ist gerade in Zeiten antirussischer Welterlösungsphantasien wie während des Krimkrieges von 1853 bis 1856, dessen damalige Ziele, die Verdrängung Rußlands aus Europa und die Auflösung seines Reiches, jetzt endlich ein für allemal erreicht werden müßten. Die „westliche Wertegemeinschaft“ als selbstermächtigte Universalmacht mißtraut der Bildung von Großräumen und einer anders verfaßten Weltordnung. Brendan Simms weist eindringlich darauf hin, wie aufmerksam in Rußland und China Carl Schmitt gelesen wird, der keine Furcht vor Rußland oder China hatte, in ihnen vielmehr nach dem Zweiten Weltkrieg einen Verbündeten erwartete im Kampf gegen die Vereinheitlichung der Welt, um die Entmündigung der vielfältigen Welt zugunsten der „Brave New World“ funktionstüchtiger Elementarteilchen unter amerikanischer Anleitung aufzuhalten oder zu überwinden.  

Mit der Vereinheitlichung der unterschiedlichen Räume wollen sich allerdings weder Rußland, China oder Indien abfinden. Wie auch immer die Welt zu einer gedeihlichen Ordnung finden wird, das liegt in mancherlei Händen, aber nicht in europäischen, da Europa im Westen aufgegangen ist. Brendan Simms schließt einen Krieg gar nicht aus, um die angelsächsische „One World“ davor zu schützen, sich mit mehreren Großräumen arrangieren zu müssen. Auf jeden Fall lohnt es sich, auch in Berlin und nicht nur in Moskau oder Peking Carl Schmitt zu lesen. 

Bild: Fjodor Baikow, Schlacht bei Kars, Gemälde 1855: Rußland spielte im großen Spiel politischer Ordnungsentwürfe keine entscheidende Rolle

Bild: James Monroe (stehend) während einer Sitzung seines Kabinetts im Jahr 1823: Die westliche Hemisphäre als eigenen Großraum achten, in dem die Europäer nichts zu suchen hatten


Brendan Simms: Die Rückkehr des Großraums? Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2023, broschiert, 65 Seiten, 19,90 Euro