© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/24 / 08 März 2024

Schlemihls Weltumsegelung
Vom Romantiker zum Realisten: Matthias Glaubrechts staunenswerte Neuentdeckung des Poeten und Naturforschers Adelbert von Chamisso
Wolfgang Müller

In einem schmalen Reclam-Heft mit dem Titel „Eine Bibliothek der Weltliteratur“, erstmals erschienen 1929 und heute noch lieferbar, präsentiert Hermann Hesse den Vorschlag für einen idealen Lektürekanon. Startend mit der Bibel, den Reden des Buddha und den Gesprächen des Konfuzius, schreitet der „Steppenwolf“-Autor rüstig voran, um über Homer, Vergil, Dante und Shakespeare, ohne deren Kenntnis niemand als gebildeter Mensch gelten könne, die zwischen 1770 und 1830 sich erstreckende Achsenzeit der deutschen Literaturgeschichte zu erreichen. Deren tropische Fülle ihn zu strengster Auswahl zwingt: „Von Goethe nehmen wir in unsere Sammlung die schönste und vollständigste Ausgabe auf, die unsere Mittel uns irgend erlauben. Auch die Werke Heinrich von Kleists müssen wir vollständig haben.“ Hingegen: „Von Chamisso genügt uns der 

Wer diesem Rat folgt, lernt nicht einmal den Dichter, geschweige denn den in einer Liga mit  Georg Forster und Alexander von Humboldt spielenden Naturwissenschaftler, Reiseschriftsteller und „Welterforscher“ kennen. So wie ihn Matthias Glaubrecht uns nun in der ersten umfassenden, aus neu angezapften Quellen fließenden, mit konkurrenzloser Materialdichte faszinierenden Biographie Adelbert von Chamissos vorstellt. Allerdings beschäftigt sich auch der Evolutionsbiologe und Wissenschaftshistoriker Glaubrecht, früher lange am Berliner Naturkundemuseum, heute Leiter des Centrums für Naturkunde und Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg, zunächst intensiv mit dem Poeten Chamisso und dem einzigen Prosatext dieses notorischen Lyrikers, der „Schlemihl“-Geschichte – immerhin eine der populärsten deutschsprachigen Erzählungen des 19. Jahrhunderts.

Deren Fabel ist scheinbar simpel gestrickt und erweist sich doch, wie Glaubrecht warnt, als von „fesselnder Unausdeutbarkeit“. Chamissos Held begegnet einem sonderbaren Mann im grauen Rock, der ihn zu einem Tauschgeschäft verführt. Für ein Glückssäckchen, das stets mit Dukaten gefüllt ist, verkauft ihm Schlemihl seinen Schatten. Ein Handel, der ihn ins Elend stürzt, denn als Schattenloser wird er aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Überall, wo der fehlende Schatten bemerkt wird, verfällt Schlemihl trotz seines ungeheuren Reichtums der Ächtung der Mitmenschen.

Als der Graurock, niemand anderes ist es als der Teufel, nach einem Jahr wieder auftaucht, fordert der zum Paria-Dasein Verdammte seinen Schatten zurück. Meister Urian  ist dazu bereit, verlangt aber, daß Schlemihl ihm dafür seine Seele mit Blut verschreibt. Dieses Angebot lehnt er brüsk ab, schleudert den Zaubersäckel fort, verzichtet auf teuflischen Reichtum und bleibt schattenlos. Das Blatt wendet sich bald darauf, als er ein paar alte Schuhe erwirbt, die sich als Siebenmeilenstiefel entpuppen, die ihn kreuz und quer durch die Welt tragen. Dabei widmet er sich so monomanisch  der Erforschung der Natur, daß der schattenlos Glückliche für immer auf menschliche Gesellschaft verzichten kann. 

Schon die Zeitgenossen lieferten eine Reihe allegorischer Deutungen, um das Rätsel der Schattenlosigkeit zu lösen. Am leichtesten stellten sich erhellende Bezüge zur Biographie des Autors her. Chamisso, 1781 auf einem Schloß in der Champagne geboren, einem lothringischen Uradelsgeschlecht entstammend, kam auf der Flucht vor dem jakobinischen Terror nach Preußen, wurde Berufsoffizier, verließ die Armee nach der Niederlage in der Schlacht von Jena und Auerstedt. Literarisch dilettierend im Umfeld der Berliner Romantiker, pendelnd zwischen alter und neuer Heimat, entschloß er sich 1812 spät zum naturwissenschaftlichen Studium an der frisch eröffneten Berliner Universität. In Schlemihl, dem Mann ohne Schatten, bilde Chamisso also sich selbst ab, den Mann ohne Vaterland.

Thomas Mann, der berühmteste Schlemihl-Exeget, schlug den Bogen noch weiter zum Zentralthema des eigenen Frühwerks, das sich an den Antithesen Bürger und Künstler, Leben und Geist abarbeitet. So gerät ihm Schlemihl alias Chamisso zum älteren Bruder Tonio Krögers. Beide  „Sorgenkinder des Lebens“ hadern als anarchische Außenseiter mit den Normen und Konventionen sozialer Ordnung. Der Schatten symbolisiere mithin „bürgerliche Solidität und menschliche Zugehörigkeit“, die Schlemihl unerreichbar geworden seien.

Nicht jedoch seinem Schöpfer. Denn mit verblüffender Präzision nimmt der zweite Teil der 1814 veröffentlichten „phantastischen Novelle“, Schlemihls Wanderschaft im Dienst der Wissenschaft, literarisch das fernere Schicksal Chamissos vorweg, die Verwandlung des Romantikers in einen Realisten. Sie vollzieht sich in der harten Schule des Lebens, die Chamisso zwischen 1815 und 1818 als einer von drei wissenschaftlichen Begleitern der „Romanzoffischen Entdeckungs-Expedition“ durchläuft, die ihn auf der russischen Brigg „Rurik“, einer Nußschale mit 33 Mann Besatzung, einmal um den Erdball führt. 

Nach seiner Rückkehr ist Chamisso, was man einen „gemachten Mann“ nennt: Die für Berliner Museen heimgebrachten Sammlungen exotischer Pflanzen und Tiere begründen seinen Ruhm als Wissenschaftler und verschaffen ihm eine Beamtenstellung als Kustos am Königlichen Botanischen Garten in Berlin-Schöneberg, die es dem einstigen Vagabunden erlaubt, eine vielköpfige Familie zu gründen und sich als bürgerlicher Biedermeier zu etablieren.

Erst 1836, zwei Jahre vor seinem frühen Krebstod, beschreibt dieser seßhaft gewordene Schlemihl das Abenteuer seiner Weltumsegelung in einem der literarisch anspruchsvollsten Reiseberichte des 19. Jahrhunderts. Glaubrecht hätte es sich für das Herzstück seiner Biographie leichtmachen und diesen ausführlichen Report lediglich referieren müssen. 

Stattdessen rekonstruiert er mit detektivischer Akribie die Zeitbezüge, in denen sich hier Wissenschaftspraktiken unter den Bedingungen europäischer Expansion vollziehen. Was bis heute gern konservierte Illusionen über „voraussetzungslose Wissenschaft“ und „zweckfreie Forschung“ zerstört. Schließlich stach die „Rurik“ nicht in See, um philanthropisch das naturkundliche Wissen der Menschheit zu mehren, sondern um zu ermitteln, ob es parallel zur Küste Sibiriens eine eisfreie nordöstliche Passage zwischen der Beringstraße und Spitzbergen gab. Unter den damaligen klimatischen Bedingungen scheiterte diese Mission an den – heute im Klimawandel abschmelzenden – Eisbarrieren des Nordpolarmeeres. Im Erfolgsfall hätte sie geholfen, Rußlands handelspolitische Dominanz im Nordpazifik zu befestigen. 

Ziele eines russischen Ausgriffs in die Südsee markiert

Trotzdem kehrt die „Rurik“ nicht nach Sankt Petersburg zurück, sondern steuert auf Kaliforniens Küsten zu. Mit dem geheimen geopolitischen Auftrag, dort vorzufühlen, wo das imperialistische Zarenreich als Nachfolger der in Nordamerika und Mexiko bröckelnden Kolonialmacht Spaniens einen Stiefel in die Tür bekommen kann. Und auch die nächsten Stationen, Hawaii und die einige tausend Seemeilen westlich davon liegenden mikronesischen Koralleninseln der Ratak-Gruppe, werden angesteuert, um sie als Ziele eines russischen Ausgriffs in die Südsee zu markieren. 

Die ethnographischen Studien, die Chamisso auf Hawaii und dem Ratak-Archipel treibt, weisen ihn für Glaubrecht als „Geschichtsschreiber der ozeanischen Völker“ aus, der zugleich der Chronist ihrer untergehenden Kultur ist, die den Zusammenstoß mit dem Tsunami der globalisierten europäischen Zivilisation nicht überstehen wird. Der beobachtende, messende und quantifizierende Chamisso, als Naturwissenschaftler nicht zu den geringsten Konzessionen an jene hemmungslosen naturphilosophischen Spekulationen à la Schelling („Natur ist sichtbarer Geist, Geist unsichtbare Natur“, 1797) bereit, wie sie ihm aus seinen frühromantischen Anfängen allzu vertraut und schon suspekt waren, zögert als politisch-weltanschaulich stark von Rousseaus Kulturkritik beeinflußter Ethnograph nicht, dem „Mythos Südsee“ zu huldigen. Er inszeniert darum den Alltag angeblich kindergleicher Rataker als paradiesisches Dasein, voller Glück, Gemeinschaft, Gleichheit und Frieden – als zeitlose Gegenwelt zu Europa am Vorabend der Industrialisierung. 

Die Schattenseiten im idealisierten 

Garten Eden verschweigt er

Tatsächlich herrscht im idealisierten Garten Eden der „edlen Wilden“ häufiger, blutiger Kampf um knappe Nahrungsressourcen. Komplizierte Hierarchien organisieren die Unterdrückung der Masse durch wenige Clanchefs, und Kindestötung ist die durch unvermeidbare Geburtenkontrolle erzwungene Regel. Auch unter den Indigenen Ozeaniens gilt halt, wie Glaubrecht lakonisch resümiert, „das Narrativ von Mord und Totschlag“. Es zählt zu den Ambivalenzen von Chamissos Weltbild, daß er diese Schattenseiten des vermeintlichen Arkadiens partiell zwar registriert, aber sie in seinen Publikationen verschweigt. Letztlich gibt er die Utopie jedoch wehmütig preis, weil der fortschrittsgläubige Zögling der Aufklärung von der Überlegenheit europäischer Bildung und Kultur überzeugt ist. Ein solches Selbstvertrauen ist seinem allzu beflissen postkoloniale Schuldgefühle pflegenden Biographen freilich fremd. 

Die Anfänge von Matthias Glaubrechts Chamisso-Passion reichen ins Jahr 2009 zurück. Sie hat seitdem neben seiner Biographie, der 2023 von ihm und zwei Bielefelder Germanisten vorgelegten Edition der fast 200 Jahre im Nachlaß verborgenen Reisejournale sowie zahlreichen interdisziplinär erzeugten Spezialstudien üppige Früchte getragen. Die beweisen, daß kulturwissenschaftliche Forschung in Deutschland jenseits von Gender, Migrationslobbyismus und Anti-Rassismus-Agitation noch zu wahrer Exzellenz fähig ist.

Bilder: Das Segelschiff „Rurik“ vor der Insel Sankt Paul in der Beringsee (Alaska): Die Zeichnung stammt von dem Expeditionsteilnehmer Louis Choris aus dem Jahr 1817, abgebildet ist sie in dem Buch „Reise um die Welt“ von Adelbert von Chamisso und Adelbert von Chamisso (1781–1838): Geschichtsschreiber der ozeanischen Völker und Chronist ihrer untergehenden Kultur

Matthias Glaubrecht: Dichter, Naturkundler, Welterforscher. Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage. Verlag Galiani, Berlin 2023, gebunden, 685 Seiten, Abbildungen, 36 Euro