Der Traum vom feministischen Utopia, in dem die Frauen das Sagen haben, lebt. Nach dem sensationellen Erfolg des „Barbie“-Films im vorigen Sommer kommt nun gleichsam die Avantgarde-Variante der visuell betörenden Emanzipationsschimäre in die Kinos. Regie führte die Spanierin Isabel Herguera, Professorin für Animation an der Kölner Kunsthochschule für Medien.
Eine Welt, in der Männer das Zepter an die Frauen weitergereicht haben, davon träumen nicht nur Emma-Abonnentinnen und feministisch engagierte Filmemacherinnen in unserer gegenwärtigen Welt. Davon träumte, ausgehend von der Situation der Frauen in Indien, auch Begum Rokeya Hossain (1880–1932), eine der bedeutendsten bengalischen Dichterinnen, in ihrer Kurzgeschichte „Sultanas Traum“, geschrieben 1905. In ihr ist der Traum vom Matriarchat wahr geworden, nachdem die Männer des Königreiches, in dem die Geschichte spielt, in einer kriegerischen Auseinandersetzung gegen die Invasoren eines anderen Stammes unterlegen waren.
Die Belagerer können schließlich aufgrund eines innovativen Lautverstärkers, den die ebenso bildungshungrigen wie fleißigen Frauen des Reiches entwickelt haben, vertrieben werden, während die Männer zu Hause eingesperrt sind. Fortan bleibt es dabei: Die Männer sitzen eingesperrt zu Hause, die Frauen kümmern sich um die Verwaltung des Reiches, das jetzt Ladyland heißt und, wie eingangs erwähnt, die wahr gewordene Utopie aller Emanzen und feministischen Träumer ist.
In ihrem Film, basierend auf einem Drehbuch, das die Regisseurin gemeinsam mit Gianmarco Serra verfaßte, läßt Herguera eine erfundene Doppelgängerin von sich, die Filmemacherin Inés, Tochter eines indischstämmigen Filmemachers und einer Spanierin, in einer indischen Buchhandlung über das Buch „Sultanas Traum“ stolpern. Inés blättert darin herum und wird eingesogen von der faszinierenden Geschichte des Königreichs Ladyland. In ihr spiegeln sich Erfahrungen, die Inés in ihrer eigenen Welt gemacht hat: als Elfjährige, die allein in einem Park sitzt und Angst bekommt, als es dunkel wird, als Tochter eines Filmemachers, der sie und ihre Mutter oft sich selbst überließ, um seinen Träumen nachzujagen, als junge Frau, die in der indischen Stadt Ahmedabad Zeugin wird, wie eine Frau sich in ihrer Not nicht anders zu helfen weiß als durch Flucht vor ihrem Mann auf einen Baum. Fasziniert von dem Buch, begibt sich die Filmheldin auf die Suche nach dessen Autorin und landet in der westbengalischen Mega-Metropole Kalkutta.
Die etwas dürre Filmhandlung ist inspiriert von persönlichen Erfahrungen der Regisseurin, die als Professorin viele Jahre in Indien verbrachte, und basiert auf der von Rokeya Hossain geschriebenen Kurzgeschichte „Sultana’s Dream“. In ihrem Geburtsort wird Rokeya, eine frühfeministische Wohltäterin, verehrt wie eine Heilige. Inés erfährt manches interessante Detail aus ihrer Biographie, etwa daß die früh Verwitwete mit dem ihr hinterlassenen Vermögen 1916 eine Berufsschule für Mädchen gründete.
Eine poetisch-visionäre Reise nach biographischen Fixpunkten
Wenn die Krieger, die vor Ladylands Grenzen stehen, zu politisch Verfolgten deklariert werden, die an vermeintlich obsoleten Grenzen aufgehalten werden, und krampfhaft nach Gelegenheiten gesucht wird, irgendwie auch noch das Thema Gender, die modische Spielart des Feminismus, einzubauen (Paul, Inés’ spanischer Freund, läßt sie – und damit ganz dezent auch den Zuschauer – per Kurzmitteilung wissen, daß er in seiner spanischen Heimat Transgender-Kinder betreut), wirkt das leider ein bißchen so, als würden die Autoren dienstbeflissen eine Checkliste abarbeiten, auf der draufsteht, was in einem politischen Zelluloid-Pamphlet, das auf der Höhe der Zeit sein will, unbedingt vorkommen muß. Da bekanntlich Kunst und ideologische Zusammenrottung einander ausschließen, hat es schon etwas rührend Naives, wenn Herguera und Serra hoffen sollten, damit etwas von bleibendem Wert erschaffen zu haben. Mit dem Schauplatz Indien ist aber immerhin eines erreicht: daß hier der Feminismus eine schwer in Abrede zu stellende Existenzberechtigung hat.
Ungeachtet der benannten Defekte ist „Sultanas Traum“ ein bewundernswert kreatives Kunstwerk. Vielleicht könnte man es, dem gesellschaftlichen Trend geschuldet, auch als „Transwerk“ bezeichnen. Denn es erinnert mehr an Malerei – und hierbei an einen Mix aus Jugendstil, Expressionismus, Kubismus und Surrealismus – als an einen klassischen Zeichentrickfilm. Eine ähnliche Transitionstechnik hatten bereits Dorota Kobiela und Hugh Welchman in ihrer virtuosen Van-Gogh-Hommage „Loving Vincent“ (2017) eingesetzt. Auch „Persepolis“ (2007), die Verfilmung des gleichnamigen Comics von Marjane Satrapi, stand bei dem politisch wie künstlerisch ambitionierten Filmprojekt der 62jährigen Spanierin erkennbar Pate.
Zehn Jahre hat sie an ihrer ersten großen Kinoproduktion gearbeitet. Die poetisch-visionäre Reise mit den Stationen Spanien, Italien, Indien und Bangladesch, auf die Herguera ihre Heldin nach dem Vorbild der eigenen biographischen Fixpunkte schickt, verbindet nicht nur verschiedene Kunst-, sondern auch verschiedene Animationsstile miteinander: Inés’ Reise ist in handgezeichneter 2D-Aquarellanimation umgesetzt. Das Leben der Autorin Rokeya Hossain ist im Stil des Schattentheaters, die filmische Adaption der Erzählung von Rokeya Hossain am Anfang des Films in dem der indischen Henna-Tätowiermethode Mehndi ausgeführt.
Vier Kapitel und ein Epilog sollen dem Film Struktur geben. Der Zuschauer ist dennoch zuweilen verwirrt, weil Herguera ihre Heldin immer wieder unvermittelt in Szenen hineinwirft, ohne daß erkennbar wird, wie sie da hingekommen ist. Häufig verschwimmt die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, Gegenwart und Reminiszenz. Lediglich angedeutet und zumeist auf den Kontakt per Mobiltelefon reduziert bleibt Inés’ Beziehung zu zwei Männern, dem Spanier Paul und dem Inder Amar. Die Kosmopolitin kann Beziehungen nur noch virtuell leben – ein Thema, das manchen vielleicht mehr interessiert hätte als die verschrobenen Traumwelten, in die Inés eintaucht.
„Träume haben die Macht, die Welt zu verändern“, heißt es an einer Stelle in dem referenzstarken, aber dramaturgisch unterbelichteten Film. In der Schlußsequenz greift Herguera diesen Kerngedanken, der einen Appell enthält, noch einmal auf: Inés lernt endlich zu träumen – von einer besseren Welt. Und träumen zu können bedeutet für sie, frei zu sein. Kinostart ist am 7. März 2024
Filmszene aus „Sultanas Traum: Mix aus Jugendstil, Expressionismus, Kubismus und Surrealismus