© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/24 / 08 März 2024

Sie fühlte sich sicher
Suche nach Linksterroristen: Die Mär von den „RAF-Rentnern“ ist falsch
Martina Meckelein

Ausnahmezustand in Deutschland. Fahndungen. Durchsuchungen. Jetzt folgen die Anschläge. „Zur Zeit hat man in Berlin das Gefühl, in die 1970er Jahre zurückversetzt zu werden. Übermäßige Bullenpräsenz, Straßensperren mit ‘allgemeinen Verkehrskontrollen’, Hubschrauber und tägliche Razzien mit schwer bewaffneten Mackern des Berliner und niedersächsischen SEKs, inklusive Panzerfahrzeugen im Kiez zeichnen das Bild der Terroristenjagd, wie schon zu Zeiten des ‘deutschen Herbst’.“ So eine Lageeinschätzung auf der Linksextremistenseite Indymedia vom vergangenen Montag. Alles begann mit der Festnahme einer Ex-Terroristin.

 Zwischen den riesigen hingeklotzten Siebziger-Jahre-Hausriegeln, wildem Sperrmüll und dem Billigsupermarkt gibt es beim edlen türkischen Kaffeehaus Tiramisu to go. Hier, rund um die U-Bahnhaltestelle Moritzplatz, wohnt die Holzklasse des links-alternativlosen Szenekiezes Berlin-Kreuzberg. Multikulti ohne Nähe und Berührung oder Kenntnis voneinander. Kein Interesse füreinander und damit keine soziale Kontrolle. Einzig zwingende Gemeinsamkeit ist die politische Weltanschauung: linksradikal bis linksextremistisch und das Schweigegebot: „Anna und Arthur halten’s Maul“. In keinem anderen Biotop hätte Daniela Klette (65) sich länger den Fahndern entziehen können. Das Umfeld ihres Unterschlupfs war wie gemacht für die RAF-Terroristin. Hier, in der Sebastianstraße 73, wo direkt die Berliner Mauer stand, in diesem Siebengeschosser, ist Anonymität Lebensmaxime. 

Am 26. Februar klingelt es bei Claudia Ivone, so der Aliasname von Daniela Klette, an der Wohnungstür. Sie wohnt hier seit Jahren zur Untermiete. Die Frau öffnet und blickt in die Gesichter von Zielfahndern des Landeskriminalamtes Niedersachsen, begleitet von Berliner Schutzpolizisten. Klette gibt eine italienische Staatsbürgerschaft an, vergebens. Auf der Wache vergleichen die Fahnder ihre Fingerabdrücke mit denen in der Computerdatei – das Ende eines 30 Jahre währenden Krimis. Hat es Klette geahnt? Der Fahndungsdruck wurde seit November vergangenen Jahres erhöht. Wieder wurde vehement mit Fahndungsfotos nach ihr und ihren beiden Genossen Burkhard Garweg (55) und Ernst-Volker Staub (69) gesucht, 150.000 Euro Belohnung ausgesprochen. 

Haftbefehle unter anderem wegen versuchten Mordes

 Das Trio war seit Ende der achtziger Jahre abgetaucht. Gesucht wurden die Ex-Mitglieder der Dritten Generation der Roten Armee Fraktion (RAF, insgesamt 34 Morde bis 1993), wegen versuchten Mordes und Sprengstoffanschlägen. Mitglieder der sogenannten Dritten Generation der RAF sollen den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, am 30. November 1989 und den Treuhand-Chef Detlev Rohwedder am 1. April 1991 ermordet haben. Die Morde wurden niemals aufgeklärt. Die Ermittler verdächtigen das Trio unter anderem konkret folgender Straftaten:

Zum einen erwirkte die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe schon vor Jahren Haftbefehle gegen die drei wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion und versuchten Mordes. 25. Februar 1990: Versuchter Sprengstoffanschlag auf das Technische Zentrum der Deutschen Bank in Eschborn. 13. Februar 1991: Anschlag auf die US-Botschaft in Bonn, Abgabe von 250 Schüssen, keine Verletzten. 27. März 1993: Mit 200 Kilo Sprengstoff zerstören sie die neue JVA Weiterstadt. Keine Verletzten, Schaden: 123 Millionen Mark. 

Gegen Klette erließ jetzt der Haftrichter sechs Haftbefehle. Dabei geht es um Raubstraftaten auf Supermärkte und Geldtransporter in den Jahren 1999, 2006, 2012, 2014, 2015 und 2016, die Beute betrug rund zwei Millionen Euro. Das Trio bedrohte dabei die Unschuldigen mit Kalaschnikow und Panzerfaust. Alle Verbrechen fanden nach der angeblichen Auflösung der RAF im Jahr 1998 statt.

Alle drei stammen aus bürgerlichen Verhältnissen. Der Hamburger Staub saß vier Jahre in Haft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Nach Verbüßung der Strafe tauchte er 1988 ab. Über Klette ist bekannt, daß sie sich seit den seibziger Jahren radikalisiert hatte. Über die Rote Hilfe lernte sie Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld, die zur Kommandoebene der RAF gehörten, kennen. Die Rote Hilfe ist ein Verein, der Linksextremisten Rechtsbeistand gewährt. Er wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Auch die Mutter von Lina E., Kopf der linksextremistischen Hammerbande, ist dort Mitglied. 

Klette beteiligte sich an den blutigen Demos gegen den Ausbau der Startbahn West. Nach der Schießerei in Bad Kleinen 1993, bei der der Terrorist Wolfgang Grams Selbstmord beging und ein GSG-9-Beamter erschossen wurde, entdeckten Fahnder bei Birgit Hogefeld einen Brief, auf dem sie Fingerabdrücke von Klette und Staub sicherstellten. Ob das Trio nach der Auflösung der RAF weiter terroristisch agierte, ist nicht klar. Politische Äußerungen sind nicht bekannt.

In der Beantwortung einer kleinen Anfrage der Grünen aus dem Jahr 2016 heißt es: „Durch Bundesbehörden werden bezüglich Staub seit 1991, bezüglich Klette seit 1993 und bezüglich Garweg seit 1998 Zielfahndungsmaßnahmen durchgeführt.“ Allerdings erklärte die RAF sich 1998 für aufgelöst. Interessant ist, daß das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) sich 18 Jahre später wieder mit den flüchtigen Ex-RAF-Terroristen beschäftigte. 

Das GETZ ist übrigens seit seiner Gründung 2014 höchst umstritten, weil es eben die strikte Trennung zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten unterläuft. Jedenfalls wurde ab Januar 2016, so die Bundesregierung in der Antwort, durch die Sicherheitsbehörden während zweier Lagebesprechungen im GETZ klargestellt, „daß die mit Haftbefehl gesuchten mutmaßlichen Mitglieder der ehemaligen („RAF“) Staub, Klette und Garweg an dem Raubüberfall in Stuhr (Niedersachsen) am 6. Juni 2015 beteiligt waren und daß es sich nach Einschätzung der zuständigen Behörden nicht um politisch motivierte Kriminalität, sondern um Allgemeinkriminalität handelt.“ 

„Sie war total nett“, sagt eine junge Nachbarin. „Sie hatte einen Hund, nahm Rücksicht auf mich, weil sie wußte, daß ich eine Hundehaarallergie habe, dann nahm sie Abstand. Und sie hielt uns die Tür auf.“ Auf den alten Fahndungsfotos, die sie sich nach der Festnahme im Internet anschaute, erkannte sie ihre Nachbarin nicht wieder. Auch nicht auf denen, die auf Veranlassung des Bundeskriminalamtes 2003 angefertigt wurden und Klette sowie Staub und Gerwig künstlich älter aussehen lassen. „Erst in der Zeitung sah ich dann am nächsten Tag ein Foto, das sie genauso darstellt, wie sie aussieht.“ Es wurde spätestens im September 2017 aufgenommen und stammt von Klettes eigenem Facebook-Account. Darauf hat sie Fotos von sich und ihren diversen Hobbys veröffentlicht. 

Der Account ist 13 Jahre alt. Unter ihrem Aliasnamen Claudia Ivone veröffentlichte sie romantische Naturansichten. Darauf zu sehen: Viel Himmel, viel Gegenlicht und viel Wasser. Als Schattenriß ist eine Frau zu sehen. Immer wieder postet sie Termine für Capoeira-Workshops, eine brasilianische Kampfkunst, Klette trainiert selbst. Ihr gefällt das Bündnis gegen Rassismus, die Werkstatt der Kulturen, die taz und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Am 28. September 2017 postet sie das Foto der „Grupo de Capoeira Angola“, auch sie ist zu erkennen. Das sind keine Zufallsbilder. Sie sind ausgesucht, eines ist sogar bearbeitet. Entweder sollte nicht erkannt werden, wo das Treffen stattfand, oder es wurden Personen geschwärzt. Die Frau muß sich sicher gefühlt haben, unbeobachtet.

 Das Neue Deutschland veröffentlicht am 4. März ein Interview mit dem Historiker Robert Wolff, er forscht zur hessischen RAF. Dessen Einschätzung zu Klettes Internetverhalten: „Was mich wirklich überrascht, ist, wie öffentlich die Festgenommene agiert hat. Ein Facebook-Konto zu betreiben, da frage ich mich, ob das Hybris oder Unaufmerksamkeit ist, oder ob sie dachte, daß sie gar nicht so viel zu verlieren hat.“ 

Suche des LKA Niedersachsen geht unvermindert weiter

Aber auch das Vorgehen der Polizei während der Festnahme Klettes wundert ihn: „Normalerweise rückt die Polizei in dem Bereich mit Spezialeinheiten und militarisiertem Gerät an, hier war es nur ein Zielfahndungskommando mit einer Polizei-streife.“ Klettes Wohnung wurde nach ihrer Festnahme durchsucht. Erst zwei Tage später mußten plötzlich alle Hausbewohner evakuiert werden. Die Fahnder hatten vierzig Stunden gebraucht, um eine Kalaschnikow, ein weiteres Schnellfeuergewehr, eine Panzerfaustgranate und eine Pistole, allesamt mit passender Munition, in einem Schrank zu entdecken. Spätestens jetzt war klar: Die Mär von den „RAF-Rentnern“, wie der Spiegel so gerne formuliert, ist falsch. Ob und wo sie weitere Waffen gebunkert hat, ist nicht klar.

 Die Beamten finden weitere Fotos von Garweg, aufgenommen in Klettes Wohnung. Er scheint ein Tierfreund geworden zu sein. Klette soll einen weißen mittelgroßen Hund besessen haben. Garweg hat einen belgischen Schäferhund. Das LKA Niedersachsen fahndet mit den aktuellen Bildern. Am vergangenen Sonntagmorgen durchsuchten 130 Beamte und ein Spezialeinsatzkommando (SEK) eine linksradikale Bauwagensiedlung am Markgrafendamm unweit des Berliner Ostkreuzes. Dort soll mit hoher Wahrscheinlichkeit Burkhard Garweg gelebt haben. Er war nicht da, sein Wohnwagen wurde abgeschleppt. Am Sonntag abend durchsuchte die Polizei ein Haus in der Grünberger Straße in Friedrichshain, ebenfalls ohne Erfolg. Am Montag morgen ein Haus in der Corinthstraße – ebenfalls erfolglos. Am Montag nachmittag nahmen Beamte auf einem Parkplatz an der A5 bei Alsbach-Hähnlein einen Mann fest. Am Abend stürmt ein SEK ein Studentenwohnheim.

 Die Antwort der Linksextremisten kann nicht eindeutiger sein: Am Montag um 19.33 Uhr veröffentlichen sie auf Indymedia Fotos, Beschreibungen und Kennzeichen der an der Fahndung beteiligten Polizeifahrzeuge, um die stattfindenden Maßnahmen, Kontrollstellen und „Bullenbewegungen“ ein wenig transparenter zu gestalten, wie sie schreiben. Dienstag morgen um 4.50 Uhr Brandanschlag auf das Umspannwerk Steinfurt nahe der Tesla-Fabrik. Bombenentschärfer sind vor Ort, das Werk ist evakuiert. Fortsetzung folgt.