Entfesselt. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist der US-Amerikaner Michael J. Sandel ein Schwergewicht der politischen Philosophie. Bereits 1996 warnte er in seinem Buch „Das Unbehagen in der Demokratie“ vor den negativen Folgen eines ausufernden Neoliberalismus für das Allgemeinwohl. Jetzt gibt es das Buch in einer aktualisierten Version – und erstmals auf deutsch übersetzt. Die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft in jeder westlichen Industrienation und die steigende Skepsis gegenüber der Demokratie interpretiert Sandel als Folge eines entfesselten Kapitalismus. Dieser fördere die Erosion des Gemeinwesens, und der herrschenden Politik im Westen fehle dazu eine Antwort. Sandel lehrt seit 1980 in Harvard, seine Veröffentlichungen sind vielzitiert im kapitalismuskritischen Milieu. Der 70jährige ist jedoch kein Sozialist, er plädiert aber für einen wertegeleiteten Kapitalismus, der die Interessen der Schwachen und den allgemeinen sozialen Frieden berücksichtigt. Mit zahlreichen geschichtlichen Exkursen in die Frühzeit der gerade unabhängig gewordenen USA unterfüttert er seine Thesen. Wer sich für grundlegende Gerechtigkeitsfragen über tagespolitische Befindlichkeiten hinaus interessiert, wird durch Sandels Buch zum Nachdenken angeregt. (st)
Michael J. Sandel: Das Unbehagen in der Demokratie. Was die ungezügelten Märkte aus unserer Gesellschaft gemacht haben. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, gebunden, 512 Seiten, 32 Euro
Fliegerpioniere. Auch wenn im Laufe des Ersten Weltkrieges jedes Schulkind die Namen Max Immelmann, Oswald Boelcke oder Manfred von Richthofen kannte, die als deutsche Fliegerasse den britschen oder französischen Kampfpiloten mehr als Paroli boten, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Deutsche Reich im Vergleich zu den Kriegsgegnern erst verspätet die taktischen Möglichkeiten der Fliegertruppe, wie die Luftwaffe damals genannt wurde, erkannte und ausschöpfte. Darauf weist Jörg Mückler in seinem wahrhaften Prachtband hin, der die Genese dieser Truppe bis Kriegsende und an allen Fronten darstellt. Dazu präsentiert er einen reichen Fundus an Bildern und Illustrationen, stellt die Flugzeugtypen und ihre Bewaffnung dar, die sich von anfänglich mit Pistolen aufeinander schießenden Piloten immer weiter professionalisierte. Das galt auch für den Kampf gegen Erdziele, der sich von aus der Kanzel abgeworfenen Handgranaten rasch zu speziellen Abwurfmechanismen für Bomben entwickelte. Ebenso mußten sich Nachschub und Organisation der rasch ihre anfägliche Exklusivität verlierenden Streitkraft anpassen, die teilweise bis zu 40 Prozent Verluste aufwies und von der 11.200 Angehörige bis 1918 ihr Leben lassen mußten. (bä)
Jörg Mückler: Deutsche Flugzeuge im Ersten Weltkrieg. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2023, gebunden, 224 Seiten, Abbildungen, 39,90 Euro