Vor einigen Jahren forderte Alexander Dobrindt eine „konservative Revolution der Bürger“ als Antwort auf die „linke Revolution der Eliten“. Der einflußreiche CSU-Bundestagsabgeordnete und studierte Soziologe wußte womöglich gar nicht, auf welch vermintes historisches Gelände er sich mit seiner populistischen Platzpatrone begab. Denn derjenige, der mit diesem schillernden Schlagwort von der „konservativen Revolution“ in der Weimarer Republik Karriere machte, war zwar ein brillanter theoretischer Kopf, der mit schwarzer Hornbrille und scharf-kantigem Profil dem CSU-Mann wie aus dem Gesicht geschnitten war. Aber er war auch ein Mordbube, der am 1. Juli 1934 in einem Wäldchen bei Oranienburg selbst ermordet werden sollte.
Mit seiner Geheimorganisation, dem „Rheinisch-Pfälzischen Kampfbund“, hatte er in der Ruhrkrise 1923 Sabotageaktionen unternommen und Jagd auf Separatisten gemacht. Die Zielscheibe seines Hasses war der Präsident der „Pfälzischen Republik“, Franz Joseph Heinz, der die Pfalz aus dem Reich herauslösen und in eine von Frankreich favorisierte „Rheinische Republik“ eingliedern wollte. Am Abend des 9. Januar 1924, einem kalten Wintertag, überquerte er mit Gefolgsleuten den gefrorenen Rhein, drang gewaltsam in den „Wittelsbacher Hof“ in Speyer ein. Ein wildes Feuergefecht endete mit einem Blutbad und fünf Toten. Er selbst entkam verletzt und konnte sich nach München durchschlagen. Dort entging er der Strafverfolgung, weil die Behörden die Tat als „Akt der Staatsnotwehr“ einstuften.
Wie so viele aus dieser verlorenen Generation hatte dieser Desperado nach dem Krieg nicht mehr ins Zivilleben zurückgefunden. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Im März 1894 war er in Ludwigshafen in eine bürgerliche Lehrerfamilie hineingeboren worden. Nach dem Abitur hatte er ein Jura-Studium begonnen, als Freiwilliger am Weltkrieg teilgenommen und war 1922 in Würzburg promoviert worden. Aber was sein Herz am Brennen hielt, das war nicht nur das Trauma des „gestohlenen Sieges“, nicht nur der erpreßte „Schandfrieden“ von Versailles. Es war vor allem die in seinen Augen unfähige Parteienrepublik von Weimar.
Der Treibsatz hierfür war seine Studienzeit in Lausanne. Dort hatte er wie elektrisiert den Vorlesungen von Vilfredo Pareto gelauscht und dessen Lehre vom „ewigen Kreislauf der Eliten“ verinnerlicht. Paretos Deutung der Welt wurde zum Motor seines Denkens. Nach Pareto war es ein unumstößliches Gesetz der Geschichte, daß die tonangebende Schicht in einer Gesellschaft über kurz oder lang der Dekadenz verfiel und von einer neuen, produktiven geistigen Führungselite verdrängt wurde. Die Geschichte war, so lehrte es Pareto, ein „Friedhof der Eliten“. Dieser rotierende Mechanismus war der Katalysator des Fortschritts, geradezu das Überlebensgesetz jeder Zivilisation.
Man mußte daher, so sah er es, „die geistigen Vorbedingungen einer deutschen Wiedergeburt schaffen“. Dem alten Credo der Konservativen aus dem 19. Jahrhundert, „Autorität statt Majorität“, mußte man neues Leben einhauchen, den Weg hin zu einem „neuen Staat“ beschreiten. In diese Richtung wiesen auch die Ideen der „Jungkonservativen“. Arthur Moeller van den Bruck mit seinem Buch „Das dritte Reich“ und der Verfassungsrechtler Carl Schmitt mit seiner Schrift „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ hatten ihr die Schneisen geschlagen. Er sollte zum Avantgardisten der „konservativen Revolution“ werden.
Mit seinem mehrfach aufgelegten Bestseller „Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein neues Reich“ wurde er zum Messias einer Zeitenwende. Sein Buch war das Manifest einer „Gegen-Aufklärung“: gerichtet gegen die „Ideen von 1789“ und gegen die durch die Massengesellschaft bewirkte Egalisierung. Bei den Parteien als Artikulationsforum der Massen, so war er überzeugt, mußte man den Hebel ansetzen. Denn durch die Parteienherrschaft gelangten die Unfähigen – die „Minderwertigen“ – an die Spitze des Staates. Sie sorgten dafür, daß kurzsichtige Partikular-interessen an die Stelle des Staatswohls traten. Sie führten mit ihrem Buhlen um die Gunst der Wähler eine Spaltung der Gesellschaft herauf. Das ließ den Staat verkümmern und die Ordnung zerfallen.
Mit seinen Thesen wurde er über Nacht berühmt. Denn in seiner Ablehnung von Parteienstaat, Demokratie und Mehrheitsprinzip traf er sich mit jener Gestalt, die Weimar den Todesstoß versetzen sollte. Nicht mit Hitler, dessen Rassenlehre er scharf verurteilte, sondern mit einem seiner Vorgänger als Präsidialkanzler: mit Franz von Papen. Der „Herrenreiter“ machte ihn zu seinem Ghostwriter. Er adoptierte sein Konzept eines autoritären Staates und wollte Hitler die Rolle eines Komparsen übertragen. Der Agitator aus München sollte die Kluft zwischen der neuen Elite und den Massen überbrücken helfen.
Es kam bekanntlich anders, was ihn 1933 in tiefe Depression stürzte. Denn nun saß, wie er sagte, eine „Ausgeburt der Masse“ an den Schalthebeln der Macht. Und dieser Mann mit dem „Verbrechergesicht“, wie er schon 1931 feststellte, würde zuerst den Konservativen und dann Deutschland den Garaus machen. Im Büro des Vizekanzlers baute er deshalb ein konspiratives Zentrum auf. Er hielt seine Hand nicht nur über Opfer des neuen Regimes und verhalf deutschen Juden zur Ausreise. Er plante auch den großen Coup, um mit dem nationalsozialistischen Spuk aufzuräumen. Die Chance sah er im Juni 1934 im scharfen Zwist zwischen Röhms SA und der Reichswehr. Die Generale sollten, so sein Plan, mit Rückendeckung Hindenburgs ein Militärregime errichten und der „konservativen Revolution“ zum Durchbruch verhelfen.
Als Initialzündung für den Umsturz hatte er für Papen eine Rede am 17. Juni vor dem Marburger Universitätsbund geschrieben. Sie war eine Generalabrechnung mit dem Hitler-Regime, mit der Unterdrückung von Meinungen und Glaubensüberzeugungen, mit dem Totalitätsanspruch der nationalsozialistischen Partei und mit der Rassenlehre. Aber wie so viele vor und nach ihm hatte er die Skrupellosigkeit und Wendigkeit Hitlers unterschätzt. Binnen einer Woche war die Seifenblase vom Staatsstreich geplatzt, wurde er verhaftet und kurz darauf liquidiert. Sein Tod schlug der Idee von der „konservativen Revolution“ die Köpfe ab. Denn in seiner Wohnung fand sich eine Kabinettsaufstellung, die zur Mordliste in der „Aktion Kolibri“ werden sollte.
Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.