© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/24 / 01. März 2024

Heiß auf den großen Auftritt
Vor fünfzig Jahren starb der Geschichtsdarsteller und Diplomat Carl J. Burckhardt
Oliver Busch

Zwischen Hofmannsthal und Hitler“ siedelt der Titel der ersten kritischen, aus dem Nachlaß und vielen weiteren Archivquellen schöpfenden Biographie den am 3. März 1974 verstorbenen Schweizer Diplomaten und Historiker Carl Jacob Burckhardt an. Paul Stauffer, ihr Verfasser, selbst lange im eidgenössischen auswärtigen Dienst tätig, zuletzt bis 1989 Botschafter in Warschau, konzentriert sich in dieser 1991 veröffentlichten Untersuchung auf jenen kurzen Abschnitt in Burckhardts Leben, als der Abkömmling eines Baseler Patriziergeschlechts zwischen 1937 und 1939 seinem Traum, einmal ins Getriebe der Weltgeschichte eingreifen zu dürfen, zumindest recht nahe kam: als Hoher Kommissar des Völkerbunds in der aufgrund des Versailler Vertrags unter der Obhut der Genfer Liga stehenden Freien Stadt Danzig.

Nicht auf peinliche Faktentreue verpflichteter Gentleman-Historiker

Stauffer ergänzte diesen reichlich publizistischen Staub aufwirbelnden Denkmalsturz 1998 mit einer nicht weniger vergangenheitspolitischen Zündstoff liefernden Fallstudie über die „Sechs furchtbaren Jahre“, die Burckhardt während des Zweiten Weltkriegs zunächst als „Außenminister“, ab 1944 als Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz auch mit den grausigen Details des nationalsozialistischen Völkermords an den Juden Europas in Berührung brachte. Beide Arbeiten Stauffers lassen sich von diesem Punkt aus verstehen als exemplarische Beiträge zur Anatomie der den Herausforderungen ihrer Zeit nicht gewachsenen politisch-kulturellen Führungsschicht Deutschlands. Und dieser Befund gilt bei Stauffer über die Zäsur von 1945 hinaus.

Wenn er Burckhardt „zwischen“ Hofmannsthal und Hitler stelle, wolle er damit keineswegs suggerieren, daß sein „Held“ beiden vergleichbar nahe gestanden habe. Mit Hugo von Hofmannsthal war der junge Attaché an der Schweizer Gesandtschaft in Wien seit 1919 eng befreundet, den Reichskanzler und Kriegsherrn, dem er, als Völkerbundskommissar, nur zweimal persönlich begegnete, nahm er alles in allem als Wahnsinnigen wahr. Doch trotz der fundamentalen Verschiedenheit wiesen der Dichter und der Diktator in ihrer Bedeutung für Burckhardt auch einen gemeinsamen Nenner auf. Handelte es sich bei ihnen doch auf je eigenem Feld, in der Literatur wie in der Politik, um Gestalten von epochemachender Wirkung. 

Daß es bei ihm weder zum literarischen Weltruhm noch zum heiß ersehnten „ganz großen Auftritt“ auf der Bühne der internationalen Politik reichen würde, sei dem so maßlos ehrgeizigen wie eitlen Mann zwar bewußt gewesen, als er sich in Basel und Genf zunächst in die Historikerlaufbahn fügte, aber sich nie, ungeachtet des starken Echos, das 1935 der erste von vier Bänden seiner monumentalen Richelieu-Biographie auslöste, der verachteten Zunft „aktengläubiger Kleinhistoriker“ zugehörig fühlte. Nicht Geschichtsforscher wollte er sein, sondern Geschichtsdarsteller, den die bei seinen stilistisch brillanten Vergangenheitsevokationen nur „Kleinhistoriker“ bindende Unterscheidung zwischen Dichtung und Wahrheit nicht kümmerte. Das „metahistorische“ Credo des US-Geschichtstheoretikers Hayden White, „Auch Klio dichtet“ (deutsch 1991), nahm der nicht auf peinliche Faktentreue verpflichtete Gentleman-Historiker insoweit vorweg. Nicht allein in seinem „Richelieu“, dem Rezensenten ankreideten, den Boden wissenschaftlicher Geschichtsschreibung um der breiteren Publikumswirkung willen verlassen zu haben, auch in seinem zeithistorischen, ihm die Hauptrolle reservierenden Hauptwerk, der Darstellung seiner „Danziger Mission“ (1960), mischt der „Zeuge des alten Europa“ (Marion Gräfin Dönhoff, 1974) Fakten und Fiktionen nach Gutsherrenart.  

Damit hätte er seinen Ruf als Geschichtskenner europäischen Rangs schlagartig fast ruiniert, wie Stauffer im Vergleich des veröffentlichten Textes mit der Manuskriptfassung zeigt. Dort lancierte er die steile These, nicht Hitler, sondern die Westmächte, Stalin und das „Weltjudentum“ seien für die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs hauptverantwortlich. Das NS-Regime, so wie er es in dessen Danziger Filiale aus grotesk realitätsferner Perspektive erlebte, sei 1938/39 bereits innerlich schwach und reif zum Zusammenbruch gewesen. Den Aufwand eines Weltkriegs zu seiner Beseitigung sei es daher nicht mehr wert gewesen. Besser sollten die Westmächte gegen die eigentliche Gefahr mobilisieren, die Europas bürgerliche Kultur bedrohe, den sowjetrussischen Bolschewismus.

Burckhardt habe 1939 „beinahe“ den Kriegsausbruch verhindert

In letzter Minute vor Drucklegung entfernte Burckhardt solche radikal revisionistischen Passagen, ließ aber immer noch das für die äußerst wohlwollende Aufnahme des Buches bei der bundesdeutschen Leserschaft ausschlaggebende Narrativ des Kalten Krieges intakt, Stalin und nicht Hitler habe die Menschheit in eine Katastrophe gestürzt. Diese hätte er, so lautete eine andere eigenwillige Botschaft der „Danziger Mission“, im August 1939 beinahe verhindert, weil der Geschichtsdarsteller während eines welthistorischen Moments endlich als „Geschichtstäter“ agieren durfte, um als Hitlers neutraler Emissär in London für Entspannung im deutsch-polnischen Konflikt um Danzig zu werben. 

Wie der begnadete Fabulierer Burckhardt sich unverdrossen an seine Lieblingslegenden zur Deutung des Zweiten Weltkriegs klammerte und zugleich Märchen über den „Widerstand gegen Hitler“ in Umlauf brachte, dokumentiert Stauffer mit jener urkomischen Schnurre vom Huldigungsbrief an die Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff. Angeblich nach einem Jagdaufenthalt in Friedrichstein, dem ostpreußischen Familienschloß der Gräfin Ende 1938 geschrieben, sieht ihr väterlicher Freund darin den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 genauso sicher voraus wie „die große Aufgabe“, die auf Dönhoff, die für ihn eine „opferbereite kühne Stellung im Widerstand“ einnahm, nach dem Ende Dritten Reiches warte. Der vermutlich erst um 1970 geschriebene Brief diente Burckhardts gräflicher „Lebensfreundin“ dazu, um sich ex post in den Widerstand gegen Hitler „hineinzulügen“ (Fritz J. Raddatz).