© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/24 / 01. März 2024

Immer der eigenen Zeit voraus
Parallele Avantgarden: Die Staatsgalerie Stuttgart wirft moderne Blicke auf das Werk des italienischen Künstlers Amedeo Modigliani
Felix Dirsch

Das frühe 20. Jahrhundert gilt mit Recht als eine der faszinierendsten Epochen kunstgeschichtlicher Betrachtungen. Neben den vielen Strömungen, die öfter längst klassisch geworden sind, fällt die Parallelität unterschiedlicher Richtungen und ihrer Genese auf. In der schnell als wegweisend geltenden Ausstellung „L’Art moderne en France“ 1916 in Paris war nicht nur Pablo Picassos epochales kubistisches Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“ zu sehen, sondern gleichzeitig Werke von Modigliani, Moise Kisling und anderen. Figurative Positionen standen neben nichtfigurativen.

Beide Richtungen stimmten in der grundlegenden Absicht überein: Die technische und kulturelle Moderne der letzten Jahrzehnte machte die Modellierung eines neuen Menschenbildes notwendig. Dieses Anliegen finden wir ebenso bei Künstlern wie Egon Schiele, Oskar Kokoschka, Ernst Ludwig Kirchner und Paula Modersohn-Becker. Eine derartige Zielsetzung konnte in unterschiedlicher Art und Weise umgesetzt werden. Noch etwas verbindet Amedeo Modigliani (1884–1920) mit anderen Avantgardisten: Er arbeitete auf der Basis der klassischen Ikonographie und brachte durch signifikante Abwandlungen doch Neues hervor. Manche sprechen von Ansätzen einer modernen Gotik.

Modigliani dürfte die Kollegen nicht alle gekannt haben, dennoch läßt sich sein Schaffen mit dem von anderen renommierten Zeitgenossen in Verbindung bringen. Die Stuttgarter Ausstellung möchte vor allem dabei mitwirken, Klischees zu beseitigen, die sich bis heute hartnäckig gehalten haben. Dazu gehören Gerüchte, Modigliani habe während des Malens getrunken, und nur Frauen aus der Unterschicht und aus dem niederen Gewerbe hätten ihm Modell gestanden. Ungeachtet solcher wohl nicht mehr ganz aufzuhellender Überlieferungen war sein kurzes Leben nachhaltig vom Alkohol- und Drogenkonsum sowie von wechselnden Frauenbekanntschaften geprägt. Seinen Modellen ist er aber auf Augenhöhe begegnet.

Die Staatsgalerie ist stolz, als eines von wenigen deutschen Museen Bilder von dem italienischen Künstler zu besitzen, der (wie nur wenige aus seiner Generation) das jüdische Weltbürgertum verkörpert. Bereits früh hatte er seine mondäne Heimatstadt Livorno in Richtung Paris verlassen.

Modiglianis Bilder nehmen einen Trend vorweg, den er selbst nicht mehr erleben durfte. Der Neoklassizismus, vor allem in Frankreich, und die Neue Sachlichkeit in Deutschland repräsentieren zwei zentrale Strömungen, in denen die Figur überaus mächtig hervortritt.

Zu den bevorzugten Motiven des Malers zählen Frauenakte

Besonders eindrucksvoll ist dies anhand der Porträts zu erkennen, die in der Ausstellung zu bestaunen sind, darunter zwei der Künstlerin Elena Povolozky. Dem Interessierten begegnen selbstbewußte Frauengestalten, an denen nicht zuletzt ihr Bubikopf und die Kleidung auffallen. Der Emanzipationsgedanke spielt im Œuvre des Italieners keine unbedeutende Rolle. Realismus ist für Modigliani charakteristisch. Modiglianis Konterfeis sind mittlerweile gut untersucht. Dabei nehmen die Mode wie die Darstellung von Körper und Augen einen herausragenden Stellenwert im Werk des Künstlers ein , zu dem auch bedeutende Skulpturen und Zeichnungen gehören. Weiter liegen umfangreiche Vergleiche mit Werken prominenter Zeitgenossen vor, etwa Picassos.

Zu den bevorzugten Motiven des Malers zählen Frauenakte. Der „Liegende Frauenakt auf weißem Kissen“ aus dem Jahre 1917 darf als einer der Höhepunkte der aktuellen Schau und als einer der am besten gehüteten Schätze der traditionsreichen Einrichtung überhaupt gelten. Heute wirkt dieses Sujet harmlos. Das war aber nicht immer so. 1917 kam es deswegen im Rahmen einer Ausstellung in der Galerie Berthe Weill zu einem handfesten Eklat: Die Schamhaare der Porträtierten treten deutlich hervor, anders als auf dem sich heute im privaten Besitz befindenden Gemälde „Liegender Akt auf einem Sofa“. Die laszive Aura, die durch den hinter den Kopf gelegten Arm, der wiederum die weiblichen Konturen des Körpers freilegt, befeuert wurde, gab zu allerlei Gerede Anlaß. Ordnungskräfte empfanden einen klaren Verstoß gegen Anstand und Sitte. Mehrere Bilder mußten abgehängt werden, darunter das heute so beliebte Gemälde „Liegender Frauenakt auf weißem Kissen“.

Nicht nur die Polizisten dürften durch die Situation überfordert gewesen sein. Die nervliche Anspannung ist auch aus den Geschehnissen des Krieges zu erklären. Der Skandal, für Wochen Tagesgespräch weit über die Boheme hinaus, dürfte der Galeristin wie dem Künstler mehr genutzt als geschadet haben. Die Darstellung der weiblichen Sexualität und der strategische Kampf um den Körper in der Kunst fungierten wieder einmal als Stein des Anstoßes.

Diverse erläuternde Begleittafeln geben tiefere Einblicke in den teilweise stürmischen Lebenslauf des im Alter von 35 Jahren an Tuberkulose verstorbenen Künstlers. Eine besondere biographische Bedeutung erhielten sein enger Freund, der Arzt Paul Alexandre, der Galerist Paul Guillaume und seine Partnerin Jeanne Hébuterne. Letztere (mit dem zweiten Kind von Modigliani schwanger) beging Suizid, als sie vom Tod ihres Geliebten erfahren hatte.

Nachdem die Ausstellung in Stuttgart ihre Pforten geschlossen haben wird, wandern die Exponate nach Potsdam weiter. Im dortigen Museum Barberini werden sie bis zum 18. August 2024 zu sehen sein.

Die Ausstellung „Modigliani. Moderne Blicke“ ist bis zum 1. April 2024 in der Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 30-32, täglich außer montags von 10 bis 17 Uhr zu sehen. Der Katalog kostet im Museum 39,90 Euro. www.staatsgalerie.de