© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/24 / 01. März 2024

Der journalistische Berufsstolz verflüchtigt sich
Neutral und objektiv war vorgestern

Bei der Repräsentativbefragung, die 2005 das Selbstverständnis deutscher Journalisten ermittelte, sahen drei von vier Teilnehmern ihre primäre Aufgabe darin, dem Publikum möglichst schnell Informationen zukommen zu lassen und „die Realität genauso abzubilden, wie sie ist“. Nur die Minderheit der Leitartikler-Kaste reklamierte für sich, „dem Publikum eigene Ansichten zu präsentieren“. Doch merkwürdig, so wundert sich Michael Haller, der an der Uni Leipzig Journalistik lehrt, seit den Nullerjahren paßt das Selbstbild vom Journalisten als neutralen, objektiven Dienstleister immer weniger zum Medienalltag. Denn bis heute stieg in den Tageszeitungen der Anteil von Ich-Geschichten rasant. Journalisten betrieben immer häufiger Nabelschau statt zu recherchieren, und selbst Wissenschaftsthemen bekämen eine „mit viel Glitzer dekorierte Ego-Bühne“. Zugleich habe sich, als Folge der Konkurrenz mit dem Internet, eine „Konfektionierung der Aussagenproduktion vollzogen“. Daher bezeichne Journalismus in vielen Redaktionen nur mehr ein mageres Media-Marketing: Klickzahlen steigern, Reichweiten dehnen,  neue Zielgruppen erschließen. Begleitet werde diese „ins Trostlose“ führende Entwicklung durch Personalabbau oder die Ablösung Qualifizierter durch Hilfspersonal. Mit der De-Professionalisierung in den Redaktionen verflüchtige sich auch der in der 2005er-Befragung noch spürbar gewordene Berufsstolz. Zur Kompensation gebe es Eitelkeitsbelohnungen: Seit 2014 haben sich die „Chef-

etiketten“ (Chefreporter, Chefkorrespondent, Chefautor) bei den 170 deutschen Tageszeitungen verdoppelt (Universitas, 11/2023). (ob)  www.heidelberger-lese-zeiten-verlag.de