Seit Wochen herrscht Unruhe in Peschawar, der Hauptstadt der pakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa an der Grenze zu Afghanistan: Tausende zumeist paschtunische Demonstranten zieht es nach den Freitagsgebeten regelmäßig auf die Straßen, um den Verkehr der wichtigsten Zufahrtsstraßen der Zweimillionenmetropole sowie verschiedene Verwaltungssitze zu blockieren. Das Gros der Demonstranten gehört den Anhängern der radikalislamischen Regionalparteien „Tehreek-e-Labbaik“ (TLP), zu deutsch „Bewegung derjenigen, die rufen: Ich folge dir, o Gesandter Gottes“ und „Jamaat-e-Islami“ (JI), die „Islamische Gemeinschaft“, an. Wechselweise der pakistanischen Übergangsregierung, dem einflußreichen Militär sowie dem mächtigen Militärgeheimdienst ISI werfen diese eine Verschleppung und Manipulation der Ergebnisse der jüngsten Parlamentswahlen vor, die am 8. Februar dieses Jahres in Pakistan stattfanden.
Im politischen System des südasiatischen Landes ansonsten unbedeutend, erhalten die beiden Islamistenparteien seit kurzem eine bedeutende Aufwertung durch die Beteiligung von Anhängern der größten Partei Pakistans an ihren Demonstrationen gegen die Regierung – der „Pakistan Tehreek-e-Insaf“ (PTI), auf deutsch „Bewegung für Gerechtigkeit“, und ihren landesweit rund zehn Millionen Parteimitgliedern.
Seit zwei Jahren besitzt Pakistan praktisch keinen Regierungschef
Seit knapp zwei Jahren besitzt Pakistan faktisch keinen gewählten Regierungschef mehr. Zuletzt bekleidete dieses Amt Imran Khan, ein prominenter ehemaliger Kapitän der pakistanischen Cricket-Nationalmannschaft, welchen es nach dem Ende seiner sportlichen Karriere in die Politik gezogen hatte. Doch ein Mißtrauensantrag im pakistanischen Parlament, angeregt durch die konservative Pakistan Muslim League (PML-N) unter den Brüdern Nawaz und Shehbaz Sharif sowie die sozialdemokratische Pakistan People‘s Party (PPP) unter Bilawal Bhutto Zardari, dem Sohn der ehemaligen Premierministerin Benazir Bhutto, und dem ehemaligen Präsidenten Asif Ali Zardari, sollte am 10. April 2022 auch das vorläufige politische Aus Khans bedeuten. Nach der PTI sind die PML-N und die PPP die bedeutendsten politischen Parteien des Landes; sie stellten seit der Unabhängigkeit Pakistans von Großbritannien beinahe sämtliche Staats- und Regierungschefs.
Als Außenseiter war Khan 1997 in die Politik gegangen; 2002 gewann er seinen ersten Sitz im Landesparlament; 2018 gelang seiner PTI schließlich ein Erdrutschsieg mit 149 von insgesamt 342 Sitzen. Seine liberalen Ansätze punkteten vor allem bei den jungen Wählern: Weniger Einfluß der Armee auf politische Prozesse, eine freie Wirtschaft, weniger Verwaltung, eine austarierte Außenpolitik mit freundlichen Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu Rußland und China.
Zur jüngsten Parlamentswahl durften weder die PTI noch Imran Khan antreten: Im Fall der PTI hatte der Oberste Gerichtshof Pakistans sanktioniert, daß diese im Sommer 2021 keine innerparteilichen Wahlen abgehalten hatte. Doch solche, argumentierte die PTI, seien aufgrund der Corona-Pandemie seinerzeit überhaupt nicht möglich gewesen; sie wurden von daher um ein Jahr verschoben. Die Argumentation wurde vom Gericht nicht anerkannt, der PTI infolge ihr Wahlabzeichen – ein Cricketschläger in Erinnerung an Khans sportliche Karriere – aberkannt.
Für die PTI ein drastischer Einschnitt: Immerhin gelten gut 42 Prozent aller Pakistaner als Analphabeten; auf dem Wahlschein suchen diese nach dem Wahlabzeichen ihrer Partei. Die Kandidaten der PTI waren im Februar dementsprechend gezwungen, als „Unabhängige“ anzutreten.Verworrener ist der Fall Imran Khans: Im Herbst letzten Jahres wurde ihm nach einer hitzigen Rede gegen die Übergangsregierung das passive Wahlrecht für fünf Jahre aberkannt. Diesen Februar folgten nur wenige Tage vor der Wahl zwei Verurteilungen aufgrund einer umstrittenen Korruptionsanklage zu je zehn und vierzehn Jahren Haft. Seine eigentliche Entmachtung mutmaßt Khan hingegen in jenem Skandal begründet, der in Pakistans Geschichte als „Lettergate“ einging: Kurz nach Rußlands Einmarsch in die Ukraine verweigerte Khan als Premierminister im März 2022 die Verurteilung Rußlands für den Angriffskrieg.
„Offensichtliche Einmischungen“durch die US-Regierung
Eine Depesche des Amtsleiters für Südasien des US-Außenministeriums, Donald Lu, sei ihm daraufhin zugespielt worden, in welcher Lu die Absetzung Khans durch die Opposition forderte, da Pakistan ansonsten „schreckliche Folgen“ drohten. Khan selbst sprach von „offensichtlichen Einmischungen in die inneren Angelegenheiten Pakistans“ durch die US-Regierung unter Joe Biden, zu welchem er, anders als vorab zu Donald Trump, keinen guten Draht aufbauen konnte. Das anschließende Mißtrauensvotum gegen Khan war, wie bekannt, jedoch erfolgreich. Trotz dieser zahlreichen Hürden gelang den „Unabhängigen“ der PTI hingegen erneut ein deutlicher Achtungssieg: Abzüglich der reservierten Sitze für Frauen und Minderheiten gewann die PTI 93 der insgesamt 336 Parlamentssitze. Auf den folgenden Plätzen landeten die PML-N mit 75 sowie die PPP mit 54 Sitzen. Doch während Khan neben regionalistischen und islamistischen Splitterparteien bislang kaum Verbündete im Parlament werben konnte, schmieden letztere bereits an einer Großen Koalition zur Regierungsbildung.
Umstritten ist noch, welche der beiden Parteien den Präsidenten und welche Regierungschef und Kabinett stellen wird. Zementiert wurde die neue politische Freundschaft jedoch bereits mit der Wahl von Maryam Nawaz Sharif, der Tochter von Navaz Sharif, als neuer Ministerpräsidentin der Provinz Punjab, der mit 130 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Provinz Pakistans. Inwieweit diese neue politische Allianz von Dauer sein wird, bleibt abzuwarten. In der Geschichte Pakistans hatte noch kein einziger Regierungschef eine volle Amtszeit überstanden.