Es war ein tage- und nächtelanges Beten und Bangen. Irgendwann wird Wilhelm Sergejew (30) im Laufe des Interviews diese Zeit am Bett seines sterbenden Bruders auf der Intensivstation folgendermaßen beschreiben: „In diesem Zimmer haben wir dann neun Tage unseres Lebens verbracht.“ Ein Junge, sein Name war Filipp, erst 16 Jahre alt, ist tot. Ein Opfer eines hemmungslosen Gewaltausbruchs unter Jugendlichen in Meinerzhagen (Nordrhein-Westfalen). Die Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft ermitteln. Was ist bloß los in unserer Gesellschaft?
Rückblick: 30. Januar 2024, 18.20 Uhr auf der Skaterbahn in der 20.000-Einwohner-Kleinstadt im Sauerland. Zu dieser Zeit sei es in der Straße „Am Stadion“ zu einer Schlägerei gekommen, schreibt die örtliche Polizei. „Nach der Schlägerei flüchteten mehrere Personen in verschiedene Richtungen.“ Später wurde „ein 16jähriger mit lebensgefährlichen Verletzungen vorgefunden. Er wurde durch Rettungskräfte in ein Krankenhaus gebracht.“ Die Hagener Staatsanwaltschaft nimmt gemeinsam mit einer ebenfalls Hagener Mordkommission die Ermittlungen auf.
„Bei uns zu Hause klingelte das Telefon“, erzählt Wilhelm Sergejev, der große Bruder von Filipp, der JUNGEN FREIHEIT. „Eine Bekannte war dran, sprach mit meiner Mutter. Ihr Sohn hatte ihr erzählt, daß er Filipp auf der Skaterbahn gesehen hatte. Er lag auf dem Boden. Es waren mehrere Krankenwagen da.“ Nur Minuten später klingelte es an der Tür. „Polizisten standen dort. Sie sagten, daß Filipp im Krankenhaus ist. Mein Vater ist sofort losgefahren. Er wußte ja nichts Genaues und hat sich alles mögliche gedacht, vielleicht einen Beinbruch.“ Doch mit dem, womit er dann konfrontiert wurde, hätte der Vater niemals gerechnet, berichtet Wilhelm.
Maschinen halten den 16jährigen noch Tage am Leben
Abends sieht Vater Alexander Sergejev (62) sein jüngstes Kind umringt von Maschinen im Bett der kühlen Intensivstation liegen. Die Geräte überwachen seine Körperfunktionen. Infusionen sind gelegt, ein Beatmungsgerät hält ihn am Leben. „Mein Bruder war nicht ansprechbar, er lag im Koma“, sagt Wilhelm. Mutter Gertrude (58), seine Schwestern und auch Wilhelm selbst eilen zum Krankenbett. „In diesem Zimmer haben wir dann neun Tage unseres Lebens verbracht und immer gebetet, daß er wieder zu sich kommt. Dabei haben die Ärzte uns von Anfang an gesagt, daß wir uns keine großen Hoffnungen machen sollten.“
Kriminaltechniker sichern währenddessen Spuren an der Skaterbahn. Die Personalien mehrerer Tatverdächtiger werden festgestellt. Wohnungen werden durchsucht, Jugendliche vernommen, Handys beschlagnahmt und die Inhalte ausgewertet. Die Frage nach dem genauen Tathergang muß geklärt werden. Bisher scheint es für die Familie so, daß sich zwei Jugendgangs eine Schlägerei geliefert haben. Filipp soll versucht haben, den Streit zu schlichten und sei selbst Opfer geworden. Sein Bruder: „Die Schläger, so sagte es mir einer der Jungs, der dabei war, sollen auf Filipp noch eingeschlagen haben, als er auf dem Boden lag. Er soll schwer geatmet haben.“
Harte Schläge, nicht endende Tritte, Videoaufnahmen – ein Muster, das inzwischen bekannt ist. „Es fehlt das Korrektiv“, formuliert es ein Psychologe, der forensisch tätig ist, gegenüber der jungen freiheit. „Die Verrohung der Jugend hat nicht primär etwas mit Migration zu tun. Eher damit, daß sie ohne Korrektiv – zum Beispiel ohne Erwachsene, die sie zurechtweisen – aufwächst. Eigentlich sollte der Staat das Gewaltmonopol innehaben. Doch diese Übereinkunft ist nicht in allen gesellschaftlichen Gruppen durchgedrungen. Die Frage ist doch: Warum versagen hier manche ethnokulturelle Milieus stärker als andere?“ Das wiederum sei in den Augen des Psychologen „als gesamtgesellschaftliches Versagen zu bewerten“.
Immer öfter sind Kameras dabei – die Taten festigen den Status
Die jüngsten Zahlen des Bundeskriminalamts vom November 2023 sprechen von einem deutlichen Anstieg im 1. Halbjahr 2023 gegenüber dem Vorjahr bei der Kinder- und Jugendgewaltkriminalität. Unter den nichtdeutschen Tatverdächtigen habe es „einen stärkeren Anstieg“ gegeben. Allerdings relativiere sich dieser Anstieg, wenn man die Zahlen im Verhältnis zur stärker wachsenden Zahl an Kindern mit Migrationshintergrund betrachte. Als Gründe führt das BKA eine erhöhte Mobilität nach den Coronabedingten Einschränkungen, gestiegene wirtschaftliche und soziale Belastungen und die Migration an.
Also haben wir dann doch kein Problem mit ausländischer Jugendkriminalität, sondern allgemein mit immer gewälttätigeren Jugendlichen?
„Betrachten wir mal ausschließlich den Islam, dann gibt es in ihm die Zweiklassengesellschaft“, so der Psychologe. „Und zwar die Unterscheidung in Gläubige und Ungläubige, also in Freund und Feind.“ Hier könne Gewalt einer Gruppe gegen eine andere den Zusammenhalt stärken. „Dann ist sie tugend- und identitätsstiftend.“
Der Berliner Psychologe räumt auf mit den herkömmlichen Erklärungsmustern von den Jugendlichen, die gesellschaftlich abgehängt seien. „Wir müssen wegkommen von der Pathologiedenke und versuchen, moralfrei Gewalt zu verstehen.“ In diesem Zusammenhang erklärt sich auch die Aufnahme der Gewaltausbrüche auf Video, um sie dann in den sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. „Die Darstellung der Tötung, um bei dem Beispiel Meinerzhagen zu bleiben, kann dann durchaus einer Beziehungspflege in einer Gruppe dienen. Das hängt von der Gruppe ab, zu der sich die Täter zugehörig fühlen. Wenn junge Migranten, egal männliche oder weibliche, die FamilienÂehre hochhalten, dann kann Gewaltausübung für sie eine Pflichterfüllung sein.“
Filipp starb am 8. Februar 2024. Einen Tag später lag das Obduktionsergebnis vor. Demzufolge erlag er starken inneren Hirnblutungen. „Massive äußere Gewalteinwirkungen auf den Kopf waren hingegen nicht zu erkennen. Das Ergebnis deutet nicht auf ein vorsätzliches Tötungsdelikt hin.“ Unabhängig davon ermitteln Staatsanwaltschaft und Polizei wegen Körperverletzung mit Todesfolge weiter. Jetzt sollen drei Videos den Ermittlern vorliegen, auf denen zu sehen sei, wie Filipp von anderen Jugendlichen schon im vergangenen Jahr zusammengeschlagen, bedroht und verhöhnt wurde.
Einige der Schläger scheinen bekannt zu sein. „Die Täter stammen aus Meinerzhagen und KiersÂpe“, sagt Bruder Wilhelm. „Sie haben verschiedenen Nationalitäten, mehrere Araber, und ein Rußlanddeutscher soll auch dabeisein.“ Schon eineinhalb Jahre zuvor kam es am Skaterplatz zu einem Streit. Ein 18jähriger stach im August 2022 auf einen 16jährigen ein, verletzte ihn lebensgefährlich. Das Opfer überlebte zum Glück.
In Meinerzhagen reißt die Diskussion um den Platz und die Gefahren dort nicht ab. Bürgermeister Jan Nesselrath (CDU) wird von dem lokalen Internetmagazin come-on.de folgendermaßen zitiert: „Wir reden natürlich über mögliche Mittel, dort einzugreifen. Aber was wir definitiv nicht wollen, ist, den Jugendlichen einen beliebten Treffpunkt wegnehmen.“ Jetzt soll der Skaterplatz, an dem Filipp starb, für 70.000 Euro neu gestaltet werden. Treffpunkte für Jugendliche, wie zum Beispiel Jugendclubs, seien oftmals die letzte Möglichkeit, Jugendgewalt zu dämpfen, sagt der Psychologe. „Aber um diese Einrichtungen effektiv zu nutzen, brauchen wir das Korrektiv.“
Filipp Sergejew (16): Nach dem brutalen Angriff lag er noch neun Tage im Koma. Maschinen hielten ihn am Leben.