© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 10/24 / 01. März 2024

Kentler und Komplizen
Abschlußbericht: Unter dem Deckmäntelchen von Wissenschaft und sexueller Fortschrittlichkeit haben Pädophile über Jahrzehnte hinweg Kinder und Jugendliche mißbraucht / Senat gegen „Erkundungen“ in Kindergärten
Christian Vollradt

Es gab mehr Täter als nur Helmut Kentler und es gab mehr Tatorte als nur das damalige West-Berlin. So in etwa könnte man knapp zusammenfassen, was Wissenschaftler der Universität Hildesheim in ihrem Abschlußbericht zum verhängnisvollen Wirken des einst prominenten Psychologen und Sexualforschers Kentler in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe nun vorgelegt haben. Das Team aus der niedersächsischen Hochschule hatte im Auftrag des Berliner Senats über mehrere Jahre Akten des Landesjugendamtes und verschiedener anderer Institutionen sowie Betreuungseinrichtungen erforscht, außerdem mehrere Zeitzeugen und nicht zuletzt Betroffene, sprich Opfer befragt. 

Opfer spricht von „übergriffigem Gegrapsche“ 

Verbunden mit dem Namen des 2008 verstorbenen Kentler ist das von ihm so bezeichnete „Experiment“, bei dem von Anfang der siebziger bis Anfang der 2000er Jahre Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen in sogenannte Pflegestellen bei pädophil veranlagten Männern, die zum Teil bereits wegen sexueller Kontakte mit Minderjährigen vorbestraft waren, vermittelt wurden. Bei der Vorstellung des Berichts am Freitag vergangener Woche bezeichnete Berlins Schul- und Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) die damaligen Zustände als „zutiefst menschenverachtend“ und als eines der dunkelsten Kapitel in der Kinder- und Jugendpflege. Was die Forscher aus den untersuchten Akten und den im Bericht wiedergegebenen Gesprächen mit mehreren Betroffenen zutage förderten, mache betroffen, meinte die Politikerin. 

 Der 1928 geborene Kentler hatte, bevor er Professor in Hannover wurde, als Psychologe unter anderem an der Pädagogischen Hochschule Berlin gearbeitet. Er gehörte zur sogenannten Neuen Linken und war über Jahrzehnte nicht nur Vertreter, sondern auch der Nestor einer „kritisch-emanzipatorischen Sexualpädagogik“. 

Seine Dissertation „Eltern lernen Sexualerziehung“ erschien im Rowohlt-Verlag und erreichte bis Mitte der neunziger Jahre eine Auflage von über 36.000. Sexualerziehung verstand Kentler als politische Bildung – mit dem Ziel, bestehende Normen und Herrschaftsverhältnisse zu verändern. Einen wesentlichen Bestandteil der Sexualpädagogik sah der Wissenschaftler, der selbst homosexuell war, zudem darin, Kindern und Jugendlichen „das Akzeptieren von Begierde und Lust zu ermöglichen“.

Daran, daß er sich darüber hinaus für eine Enttabuisierung sowie Legalisierung von vermeintlich einvernehmlichen und gewaltfreien Sexualkontakten zwischen Kindern oder Jugendlichen und Erwachsenen einsetzte, nahmen die meist ebenfalls linken Vertreter der Zunft lange Zeit keinen Anstoß. 

Wie die Hildesheimer Wissenschaftler betonen, hatte es Kentler nicht bei theoretischen Erwägungen belassen oder Beihilfe für andere Pädophile geleistet, sondern war selbst zum Täter an Pflegekindern geworden. Dies trifft ebenso auf die beiden Pädagogen Gerold Becker und Herbert Colla-Müller zu, die in dem Bericht eine große Rolle spielen. Deren Netzwerk habe nicht nur in Berlin, sondern bundesweit gewirkt. Ihr Einfluß erstreckte sich auf Einrichtungen in Tübingen, Göttingen, Lüneburg und Heppenheim (Odenwaldschule). So seien etwa Kinder aus der Obhut der Berliner Jugendhilfe in andere Städte und Einrichtungen überstellt worden, die unter der Leitung von Mitgliedern des Kentler-Netzwerks standen. 

Einer der Betroffenen schilderte im Gespräch mit dem Aufarbeitungsteam das „immer übergriffiger werdende ‘Gegrapsche’“ des an der Universität Lüneburg lehrenden Professors Herbert Colla-Müller, bei dem er als Jugendlicher untergebracht worden war. Der Sozialpädagoge habe „die Person nicht nur einfach umarmt, sondern sich mit seinem ganzen Körper an die Person gedrückt, wollte beständig mit der betroffenen Person die Sauna besuchen, habe die Person gebeten, ihm überall, mitunter sogar in der Badewanne, die Füße zu massieren oder hat den Kopf der betroffenen Person fest gegriffen, um der Person einen Kuß auf den Mund zu gegeben“, heißt es in dem bewußt so anonym wie möglich formulierten Text des Abschlußberichts.  

Unterstützt oder – durch haarsträubendes Versagen – gedeckt wurde das Treiben der Pädokriminellen von Mitarbeitern des Landesjugendamts im damaligen West-Berlin sowie von anderen Wissenschaftlern wie den Pädagogen Hartmut von Hentig und Martin Bonhoeffer. 

Die Beteiligten aus dem universitären Milieu hatten sich insbesondere als Reformer bei der Heim-unterbringung von Kindern hervorgetan. Wie in der nun vorgelegten Studie beschrieben, diente diese Heimreform den Tätern dazu, sexualisierte Gewalt an Minderjährigen zu verdecken. Sie wurde unter anderem durch Begriffe wie „pädagogischer Eros“ verklärt oder als „Einzelfall“ marginalisiert. Zudem hätten die Pädagogen mit der Macht ihres Netzwerks und unter Verweis auf ihre vermeintlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse versucht, vereinzelte kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen. 

Ganz bewußt zog Kentler zur Rechtfertigung seines kriminellen Tuns auch die Verfolgte-Minderheiten-Karte: „Schwule oder Lesben haben aufgrund ihrer Sozialisation und ihrer gesellschaftlichen Situation oft auch mehr Verständnis für verhaltensauffällige, normalabweichende Kinder und Jugendliche“, schrieb er in einem seiner Bücher.  

Wie viele Kinder und Jugendliche Opfer des Mißbrauchs durch dieses Netzwerk wurden, ist derzeit noch nicht bekannt. Die Hildesheimer Forscher sowie der Berliner Senat haben Betroffene aufgefordert, sich zu melden. Zu Lebzeiten Kentlers wurden seine Taten und Verstrickungen nicht aufgearbeitet. Als der Professor für Sozialpädagogik 2008 in Hannover starb, galt er noch als renommierter Wissenschaftler.

Die Autoren der Studie betonen, daß auch die Fachwissenschaft ihre Verstrickungen aufarbeiten und Verantwortung für diese Mißstände übernehmen müsse. Dies gelte ebenso für die entsprechenden Verbände wie die Gesellschaft für Sexualpädagogik oder die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung. Senatorim Günther-Wünsch teilte mit, mehrere bisher identifizierte Opfer hätten vom Land Berlin eine finanzielle Entschädigung erhalten.

Senat will keine „sexuellen Erkundungen“ in Kindergärten

Unterdessen hat vergangene Woche ein aktueller Vorgang in der Senatsverwaltung für Jugend für Furore gesorgt. In einem noch unveröffentlichten Entwurf für ein neues Bildungsprogramm an Kindertageseinrichtungen, der der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, wurde die Einrichtung von Räumen gefordert, in denen auch Drei- bis Sechsjährige „Lustgefühle“ ausleben könnten. Am Montag dann erteilte der Staatssekretär für Jugend und Familie, Falko Liecke (CDU), gegenüber der JF dem Projekt eine klare Absage: „In Berliner Kitas wird es ausdrücklich keine eigenen Räume für pädagogische sexuelle Erkundungen für Kinder untereinander geben und auch keine angeleiteten oder freien sonstigen sexuell-pädagogischen Konzepte.“ Es habe sich um Handlungsempfehlungen aus dem wissenschaftlichen Bereich gehandelt, die „eine andere Perspektive vertreten“. 

Liecke betonte, man teile „diese Ansichten ausdrücklich nicht“ und werde dies „auch nicht im Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege aufnehmen“. Das Konzept sei unautorisiert weitergereicht worden und inzwischen zurückgezogen. Es entspreche „ganz und gar nicht unseren Vorstellungen von einem kindgerechten Bildungsauftrag“, stellte der Staatssekretär klar.