Noch bis kommende Woche können Niedersachsens Protestanten ihre Kirchenvorstände oder Gemeindekirchenräte neu bestimmen. Die ehrenamtlichen Mitglieder leiten gemeinsam mit den ordinierten Pfarrern die Gemeinden vor Ort. Sie sind für deren Ausrichtung genauso zuständig wie für das Personal, die Finanzen und kirchlichen Gebäude. Gewählt wird alle sechs Jahre, wobei sich die Kirchenvorstände auch durch berufene Mitglieder ergänzen können. Wahlberechtigt sind landesweit rund 2,6 Millionen Kirchenmitglieder ab 14 Jahren. Ihnen stellen sich insgesamt mehr als 10.000 Kandidaten zur Wahl.
Konfessionell gleicht das Gebiet zwischen Harz und Nordsee noch dem Zustand von vor 1946, als das Bundesland aus mehreren bisher selbständigen Staaten und der ehemaligen preußischen Provinz Hannover gegründet wurde. So gibt es in Niedersachsen fünf eigenständige Kirchen: die vier lutherischen Landeskirchen Hannover, Oldenburg, Braunschweig (die auch kleinere Teile Sachsen-Anhalts umfaßt) und Schaumburg-Lippe sowie die Reformierte Kirche mit Sitz im ostfriesischen Leer.
Premiere hat diesmal in den meisten Teilen des Landes ein neues Wahlrecht. Das sieht unter anderem neben der Brief- und Urnenwahl auch die Möglichkeit vor, online abzustimmen. Außerdem sind die Gemeinden bei der Mindestzahl ihrer Kirchenvorstände flexibler – die sinkende Zahl aktiver Gemeindemitglieder fordert ihren Tribut. Eine gravierende Änderung sieht vor allem der Abschnitt vor, bei dem es darum geht, wer gewählt werden kann – und wer nicht.
Bekenntnis zu „offener und solidarischer Gesellschaft“
Neben formalen Voraussetzungen (zum Beispiel Mindestalter und Mitgliedschaft in der Gemeinde) galt bisher im Kirchenvorstandsbildungsgesetz der größten Landeskirche Hannover, die drei Viertel Niedersachsens umfaßt: „Wählbar ist nur, von dem auch erwartet werden kann, daß er an der Erfüllung der Aufgaben des Kirchenvorstandes als tätiges Kirchenmitglied gewissenhaft mitwirken wird.“ Nun heißt es im vor zwei Jahren geänderten Gesetz dazu: Wählbar seien Personen, die „bereit sind, als Mitglied des Kirchenvorstandes im Hören auf Gottes Wort und in der Bindung an das kirchliche Recht an der Erfüllung des Auftrags der Kirche mitzuwirken.“ Und dann folgt ein Abschnitt, der besagt: „Nicht wählbar ist, wer in öffentlichen Äußerungen Auffassungen vertritt, die im Widerspruch zum Auftrag der Kirche oder zu den Grundsätzen ihrer Ordnung stehen, wie sie in der Verfassung der Landeskirche beschrieben werden, oder aktiv eine Vereinigung unterstützt, die derartige Ziele verfolgt.“
Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Hannoversche Kirchenverfassung. Dort heißt es unter anderem, die Landeskirche „wendet sich gegen jede Form von Diskriminierung“ und bekenne sich zu einer „offenen und solidarischen Gesellschaft“. Bereits im Herbst vergangenen Jahres hatten die Landeskirchen mit Blick auf die nun anstehenden Kirchenvorstandswahlen eine Handreichung zum „Umgang mit extremistischen Positionen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ herausgegeben. Strebe eine Person ein kirchliches Amt an, die öffentlich für derartige Haltungen – wie „Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit“ – eintrete oder entsprechende Vereinigungen aktiv unterstütze, erfülle sie nicht die nötigen Voraussetzungen für ein solches Amt, schreiben die Kirchenleitungen.
Weiter heißt es: „Die Wählbarkeit ist insbesondere dann zu prüfen, wenn eine Kandidatin oder ein Kandidat durch menschenverachtende, ausgrenzende, rassistische, juden- oder islamfeindliche, queerfeindliche oder demokratiefeindliche Äußerungen oder Aktivitäten auffällt (zum Beispiel in öffentlichen Diskussionen oder Leserbriefen, aber auch in sozialen Medien, wie Facebook- oder Telegramgruppen).“
Zudem verträten einige Parteien oder Vereinigungen Positionen, die mit den Haltungen der Kirche unvereinbar seien. Auch wenn die betreffende Partei nicht verboten ist, sei eine Mitgliedschaft „Anlaß für die Überprüfung der Wählbarkeit“. Grenzen theologisch verantwortbarer Positionen würden überschritten, „wenn Parteien, Vereinigungen, Initiativen oder ihre Vertreterinnen und Vertreter sich menschenverachtend, insbesondere rassistisch, antisemitisch, islamfeindlich, queerfeindlich, sexistisch oder demokratiefeindlich äußern. Ebenso, wenn sie zu Gewalt aufrufen, die freie Meinungsäußerung unrechtmäßig begrenzen wollen oder Haßparolen verbreiten“. Und es können auch bereits gewählte Mitglieder eines Kirchenvorstands im äußersten Fall entlassen werden, wenn sie sich in solchen Formen menschenverachtend, rassistisch etc. geäußert haben.
Nun sind beispielsweise Aufrufe zu Gewalt sicherlich naheliegende Ausschlußkritierien für ein kirchliches Ehrenamt. Weit schwieriger dürfte es sein, etwa „queerfeindlich“ zu definieren. Hier könnte schon in Teufels Küche kommen, wer ohne textkritische Distanz aus dem 3. Buch Mose zitiert. Und inwiefern ist jemand als Mitglied einer Partei für etwas verantwortlich zu machen, das jemand anderes aus dieser Partei geäußert hat? Und wer entscheidet in der Kirche in solchen Zweifelsfällen?
Zuständig für die Frage der Zu- oder Nichtzulassung ist jeweils der amtierende Kirchenvorstand. Der kann sich bei Unklarheiten ratsuchend an den Kirchenkreisvorstand oder an die Rechtsabteilung des Landeskirchenamts wenden. Auf die Frage, wer – und auf welcher rechtlichen Grundlage – entscheidet, ob eine Äußerung sexistisch, queer-, islam- oder demokratiefeindlich ist, heißt es von der Pressestelle der Hannoverschen Landeskirche, dies sei Sache des Landeskirchenamts – auf Basis des Kirchenvorstandsbildungsgesetzes. Freilich tauchen dort diese Begriffe gar nicht auf. Inwieweit auch Äußerungen unterhalb strafrechtlich relevanter Tatbestandsmerkmale zu einem Ausschluß von der Wählbarkeit führen, sei eine Einzelfallentscheidung, hieß es auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT.
Die Kirchenvorstände, so teilte die Kirchensprecherin mit, seien auch nicht gehalten, proaktiv die sozialen Netzwerke nach Veröffentlichungen oder Äußerungen von Kandidaten zu durchforsten. Aus der Antwort geht auch hervor, daß nicht gesondert geprüft wird, ob Kandidaten möglicherweise theologische Positionen vertreten, die nicht mit den für die Landeskirche grundlegenden Bekenntnisschriften übereinstimmen.
Hannovers Landesbischof Ralf Meister hatte dem Evangelischen Pressedienst gesagt, die Kirche habe Vertreter „aller demokratisch wirkenden Parteien in den Kirchenvorständen“, man schließe jedoch ausdrücklich Menschen aus, „die sich rassistisch oder antisemitisch äußern“. In den Handreichungen wird zwar keine Partei ausdrücklich genannt; daß es aber in erster Linie um die AfD geht, daraus machen die Kirchenoberen keinen Hehl. Im Vorfeld der Kandidatenkür meinte der Oldenburger Landesbischof Thomas Adomeit, man überprüfe, wenn jemand kandidieren wolle, der oder die der AfD nahestehe, Mitglied sei oder deren Parteiprogrammatik offen kommuniziere.
Nicht Menschen, sondern Positionen verurteilen
Daraufhin warf der religionspolitische Sprecher der niedersächsischen AfD-Landtagsfraktion, Jens-Christoph Brockmann, der Kirche vor, sie predige Ausgrenzung und Haß gegen politisch Andersdenkende und untergrabe damit die Demokratie. Adomeit, der auch Ratsvorsitzender der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen ist, hielt dem in der Evangelischen Zeitung entgegen, man wolle „im Gespräch mit den Menschen sein und bleiben“. Da mache man „keine Ausnahme“. Auch in den kirchlichen Handreichungen wird betont: Es gehe „nicht um eine pauschale Verurteilung von Menschen, die entsprechende Inhalte vertreten, sondern um die Abgrenzung zu deren Positionen“.
Ähnlich der Tonfall in der kleineren Braunschweigischen Landeskirche. Zwar sei „die AfD (bisher) nicht klar als verfassungsfeindliche Partei eingestuft“ worden, sie dulde aber „in ihren Reihen Menschen, die einen völkischen Nationalismus vertreten, der weder mit der Verfassung noch mit dem christlichen Glauben vereinbar ist“, heißt es in einem von der Pressestelle des Kirchenamts herausgegebenen Magazin. „Deshalb kann ein mangelndes Verbot der AfD für die Kirche kein ausreichendes Kriterium sein, Menschen, die dieser Partei verbunden sind, ohne weiteres als Kandidatinnen und Kandidaten für den Kirchenvorstand zuzulassen.“
Vor über 15 Jahren hatte in der Landeskirche ein Ausschluß eines Kirchenvorstandsmitglieds bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. In einem Dorf bei Königslutter im Kreis Helmstedt bekleidete über viele Jahre ein Landwirt das kirchliche Ehrenamt, der jahrzehntelang für die NPD im Gemeinderat saß. Erst im Zuge des damaligen NPD-Verbotsverfahrens hatte man Anstoß genommen und den Mann vor die Wahl gestellt: entweder raus aus der rechtsextremen Partei oder aus dem Kirchenvorstand. Auch ohne die ausdrücklichen, im neuen Kirchenwahlrecht festgezurrten Ausschlußkriterien war das Kirchenamt damals nach theologischer Analyse des NPD-Parteiprogramms zum Ergebnis gekommen, die dort vertretene Weltanschauung sei mit den Grundlagen des christlichen Glaubens nicht vereinbar. Der Betreffende flog also aus dem Kirchenvorstand, wurde in seinem Dorf allerdings auch danach noch – mit dem zweitbesten Ergebnis – in die (weltliche) Kommunalvertretung gewählt.
Völkischer Nationalismus sei Sünde, Rassismus verbiete sich für Christen, heißt es im offiziellen Magazin des Braunschweigischen Kirchenamts. Und man verweist auf die Barmer Theologische Erklärung von 1934, mit der die damalige Bekennende Kirche gegen den Einzug der nationalsozialistischen Ideologie in die kirchliche Offenbarung Front machte: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“
Die Thesen von Barmen sind nach wie vor Teil des Bekenntnisses der evangelisch-lutherischen Kirchen. Doch die Abwehr gegen politisch-ideologische Einflußnahme ist dort wesentlich allgemeingültiger. So heißt es an anderer Stelle des Bekenntnisses: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“ Gottes Wort und Werk dürfe die Kirche nicht „in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne“ stellen.
Wie sieht es eigentlich mit der praktischen Relevanz der neuen Vorgaben im kirchlichen Wahlrecht aus? Wie viele potentielle Kandidaten wurden in der mit 1,9 Millionen Wahlberechtigten größten Landeskirche Niedersachsens unter Verweis auf den Ausschluß von der Wählbarkeit nicht zugelassen? „Es gab keinen Fall, in dem der Kirchenvorstand einen förmlichen Bescheid über die Ablehnung eines Kandidaten wegen menschenfeindlicher Positionen erlassen hätte“, teilt die Pressesprecherin des Kirchenamts in Hannover auf Anfrage der jungen freiheit mit. In einem anderen Fall habe eine Person ihre Kandidatur „nach einem Gespräch mit der Pfarrperson und zwei weiteren Mitgliedern des bestehenden Kirchenvorstandes“ zurückgezogen.