Wenn nur genügend viele Menschen etwas wollen, dann helfen Verbote nicht weiter. Das ist bei Drogen nicht anders als bei Parteien. Die gescheiterte Alkoholprohibition in den USA ist dafür nur ein Beispiel von vielen. Insgesamt ging damals zwar der Alkoholkonsum leicht zurück und die Zahl der Alkoholtoten sank – aber um einen mörderischen Preis. Als zwangsläufige Folge rigider Prohibitionspolitik haben sich zu allen Zeiten fein vernetzte Schwarzmärkte entwickelt, die von milliardenschweren Verbrechersyndikaten betrieben werden und mit Gewaltexzessen und unkontrollierbaren Kapitalströmen jedes Gemeinwesen destabilisieren können – von den Problemvierteln unserer Großstädte bis hin zu ganzen Kontinenten. Für die Kritiker eines restriktiven Drogenregimes ist deshalb das Elend des Drogenmißbrauchs untrennbar mit dem Elend restriktiver Drogenpolitik verbunden.
Dieses Dilemma hat immer wieder die Utopie völliger Drogenfreigabe genährt. Laßt die Menschen doch eigenverantwortlich konsumieren, was sie wollen, fordern ihre Anhänger. Die freie Verfügbarkeit von Drogen mit staatlichem Reinheitsgebot würde die Gesundheitsgefahren eindämmen und den Drogenkartellen mit all ihren Verheerungen auf einen Schlag die Geschäftsgrundlage entziehen, so wird argumentiert. Doch darauf hat sich bisher niemand eingelassen, und das aus gutem Grund. Denn das Menschenbild, das solchen Visionen zugrunde liegt, erscheint völlig realitätsfern. Das Gemeinwohl gänzlich unreguliert der Einsicht und Selbststeuerungsfähigkeit jedes Einzelnen zu überantworten, funktioniert ja noch nicht einmal im Straßenverkehr. Vom Kinder- und Jugendschutz ganz zu schweigen.
Jedem, der sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigt, muß deshalb klar sein: Die eine Lösung, den Königsweg in der Drogenpolitik gibt es nicht. Doch genau auf einem solchen Weg wähnt sich die Berliner Ampel mit ihrem von den Grünen forcierten Cannabisgesetz. Die Versprechungen klingen verlockend. „Mit dem Gesetz stärken wir den Gesundheits- und Jugendschutz und dämmen den Schwarzmarkt ein“, heißt es bei der Grünen-Fraktion im Bundestag. Das entlaste die Polizei sowie Gerichte und Staatsanwaltschaften. „Wir haben die Chance, die Szenen voneinander zu trennen“, proklamieren die Grünen in hippen Videos. Auf der einen Seite ein legaler Bereich, der gesetzlich „hart reglementiert ist“, auf der anderen Seite die „harten Drogen“. Abgesehen davon, daß allein schon diese Unterscheidung Augenwischerei ist, weil auch „weiche“ Drogen bei entsprechendem Konsum „harte“ Folgen haben können, liefen große Teile der Fachwelt Sturm gegen das Vorhaben.
Nichts von alledem werde sich in der Praxis realisieren lassen, das genaue Gegenteil werde eintreten, so warnt ein vielstimmiger Chor von Gesundheitsexperten, Ärzten und Strafverfolgern: vom Bund der Kriminalbeamten bis zum Deutschen Richterbund, vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, den Kinder- und Jugendpsychologen, der Bundespsychotherapeutenkammer bis zur Bundesärztekammer.
Man mag Kritik, die darüber hinaus aus der politischen Opposition kommt, für interessengeleitet halten. Auch wenn beispielsweise das Entsetzen des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU) auf der Expertise eines über Parteigrenzen hinweg anerkannten Praktikers beruht. Was aber allein von Fachleuten an Kritik am Cannabisgesetz geäußert wird, ist vernichtend genug. Dabei geht es gar nicht um die Philosophie einer Entkriminalisierung durch (kontrollierte) Freigabe. Die vielstimmige Kritik bezieht sich allein auf die fehlende Praktikabilität des Gesetzes. Weder der Jugendschutz noch die weiterhin vorgesehene Strafverfolgung seien mit vertretbarem Aufwand auch nur ansatzweise gewährleistet, so der Tenor. Also wieder einmal typisch Ampel? Gut gemeint, aber schlecht gemacht?
Mehr als das. Denn wie das Gesetz wirklich „gemeint“ ist, ist noch eine ganz andere Frage. Die Tatsache, wie all die Einwände der Fachwelt in den Wind geschlagen wurden, nährt ernsthafte Zweifel an der lauteren Absicht, den Cannabiskonsum vorsichtig zu liberalisieren. Dieses Mißtrauen speist sich auch noch aus einer anderen Quelle. Es ist kein Geheimnis, daß weite Teile der Grünen für eine Freigabe aller, auch der sogenannten „harten“ Drogen eintreten. Es ist wahrlich nicht nur der Berliner Grünen-Fraktionsvorsitzende Werner Graf, der anläßlich der „Hanfparade“ 2022 als einer von vielen in der Partei und nicht zum ersten Mal die Freigabe aller, auch „harter Party-Drogen“ wie Kokain, Ecstasy und Amphetamine forderte.
Das „Recht auf Rausch“ mit jeder Droge hat nicht nur bei den Grünen zahlreiche Anhänger. Auf dem FDP-Parteitag im Jahr 2021 im Vorfeld der letzten Bundestagswahl konnte die Parteiführung erst in letzter Minute verhindern, daß eine bereits beschlossene Forderung nach „Freigabe aller Drogen“ im Wahlprogramm landete. Nur mit größter Mühe trommelte Parteichef Lindner damals eine zweite Parteitagsmehrheit von gerade einmal mit 58 Prozent zusammen, die den Beschluß wieder zurücknahm. Man muß also kein Verschwörungsgläubiger sein, um hinter dem Cannabisgesetz der Ampel eine viel weiter reichende Agenda zu befürchten. Wohl verstanden: Angesichts der aufgezeigten Dilemmata, vor denen jede Drogenpolitik steht, muß man über alles reden können. Dann aber bitte mit offenem Visier und nicht unter dem Deckmantel eines offensichtlich praxisuntauglichen Gesetzes, das den klandestinen Einstieg in die Totalliberalisierung anbahnt.
Wie Studien über erfolgreiche Liberalisierungsversuche der Drogenpolitik in Portugal zeigen, ist ein breitestmöglicher gesellschaftlicher Konsens unabdingbare Voraussetzung dafür. Hier ist Besitz und Konsum entkriminalisiert, aber nicht legal. Kleine Mengen sind okay. Mit ihrem handwerklich schlampigen, in der Fachwelt durchgefallenen und mit offenbar verdeckten Zielen durchgedrückten Cannabis-Gesetz spaltet die Ampel aber Fachwelt und Öffentlichkeit. Man kann nur hoffen, daß auch dieses Werkstück nach der nächsten Bundestagswahl „zurück in die Fabrikhalle“ geschoben wird – wie ein trojanisches Pferd außer Diensten.