© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/24 / 23. Februar 2024

„Ich hau dir mal eine aufs Maul“
Die deutsche Gamingindustrie ist in der Krise
Florian Werner

Für eine Schüssel karger Fleischwanzensuppe anstehen, mühsam Erz in Minenschächten schürfen, einen Krug kühles Bier trinken und anschließend eine wilde Schlägerei anfangen – für viele Jugendliche in den 2000ern gehörte das damals zum ganz normalen Alltag. Die Rede ist dabei nicht von einer schweren Kindheit in Duisburg-Marxloh oder Berlin-Neukölln, sondern von „Gothic“, einem für die damaligen Verhältnisse revolutionär atmosphärischen Computerspiel von dem Entwicklerstudio Piranha Bytes. Das Erstlingswerk der Essener Gamingschmiede drückte mit seinen derben Sprüchen einer ganzen Generation den Stempel auf: „Ich glaube, ich hau dir mal eine aufs Maul!“ 

Doch was als Spielerglück made in Germany begann, könnte nun ein jähes Ende finden. Seit Anfang des Jahres gibt das 1997 gegründete Entwicklerstudio kein Lebenszeichen mehr von sich. Die Internetseite des Unternehmens läßt sich nicht mehr öffnen. Stattdessen ploppt eine Pressemitteilung auf, in der finanzielle Schwierigkeiten zur Sprache kommen. „Wir, Piranha Bytes, befinden uns in einer schwierigen Lage.“ Ein erratisches Statement. Recherchen des Branchenmagazins Gamestar bringen Licht ins Dunkel. Der Eigentümer von Piranha Bytes, die schwedische Embracer-Gruppe, soll derzeit nach einem Käufer für das angeschlagene Studio suchen. Embracer hat in der Vergangenheit unter anderem den kultigen „Goat Simulator“ und den Endzeit-Shooter „Metro Exodus“ betreut. Die rund 30köpfige Belegschaft von Piranha Bytes sei womöglich schon im Dezember gekündigt worden. Neben Mimimi Games aus München und Daedalic Entertainment aus Hannover wäre Piranha Bytes damit ein weiteres deutsches Entwicklerbüro, das 2024 dichtmacht. Nach dem Ende der Corona-Pandemie, in der sich viele Menschen an ihren Bildschirm zu Hause geklammert hatten, schrumpft der Markt nun wieder auf seine ursprüngliche Größe zusammen.

„Gothic“ war die Antwort auf amerikanische Spieleklassiker

Die Industrie hat gut am Lockdown verdient, es aber versäumt, sich auf den erwartbaren Abschwung vorzubereiten. Selbst Gaminggrößen wie die „League of Legends“-Macher Riot Games mußten sich zuletzt von elf Prozent ihrer Belegschaft trennen, etwa 500 Kollegen. Auch Microsoft setzte 1.900 Angestellte vor die Tür. Pläne für neue Spiele wurden auf Eis gelegt. Die Streaming-Plattform Twitch entließ ebenfalls Angestellte. Im Falle von Embracer soll ein geplatzter Milliarden-Deal mit saudischen Geldgebern den Anstoß gegeben haben. 

Mit Piranha Bytes trifft es nun aber ein Stück Gaminggeschichte. Oder, um es mit „Gothic“ selbst zu sagen: „Ich hab immer meine Steuern gezahlt – jahrelang. Aber das hat dem Hurensohn mit der Krone nicht gereicht!“ Die Story des Klassikers spielt in einem mittelalterlichen Kosmos, in dem sich Menschen und Orks im Krieg befinden. Erz ist eine Schlüsselressource und wird auf der Insel Khorinis von Häftlingen abgebaut. Die Handlung von „Gothic“ beginnt, als es in der Strafkolonie zu einem Unfall kommt, in dessen Folge ein Gefangenenaufstand die Machtverhältnisse durcheinanderwirbelt. Der Spieler, ein namenloser Held, muß nun versuchen, von der Insel zu entkommen. Mal rammt er sein Schwert dabei in den Rücken eines blutrünstigen Trolls, mal erkundet er dunkle Höhlenschächte, und mal raucht er Sumpfkraut mit den Gurus tief in den Sümpfen von Khorinis, wobei originelle Dialoge wie dieser entstehen: „Machst du auch noch was anderes außer rauchen?“ – „Ja. Manchmal lasse ich mich auch von rachedurstigen Junkies verkloppen!“ 

Mit seiner rauhen Stimmung und der bestechend einfachen Spielmechanik galt „Gothic“ damals als Antwort auf amerikanische Gameklassiker wie „Diablo II“ und „Morrowind“. Nur selten konnte sich die deutsche Spieleindustrie derart souverän gegen die internationale Konkurrenz behaupten. Ausnahmen wie der Hochglanz-Shooter „Crysis“ oder das Aufbau-Strategiespiel „Anno“ bestätigen die Regel. Doch während die „Gothic“-Schöpfer in Konkurs gehen könnten, wartet auf ihr ikonisches Spiel womöglich schon bald ein Revival. Denn im Embracer-Portfolio befindet sich neben den angeschlagenen Programmierern von Piranha Bytes auch das spanisches Entwicklerensemble von Alkimia, das bereits an einem Remake des berühmten Rollenspiels arbeitet. So bleibt die Hoffnung, daß Wortwechsel wie diese in Zukunft nicht aussterben: „Hey, was bist du denn für ein Freak, du hast mich geschlagen! – Ich schlag dich gleich noch mal, ich steh auf Schläge!“