Thomas Mann hat 1901 mit den Buddenbrooks ein magistrales Werk vom Aufstieg und Fall einer Patrizierfamilie im hanseatischen Lübeck zwischen 1835 und 1877 veröffentlicht, ein Familienroman, für den er zu Recht den Nobelpreis erhielt. Andreas Mölzer hat nun in mehr als zwanzig Jahren Arbeit ein ähnliches Werk geschaffen, dem ebenfalls die eigene bewegte Familiengeschichte, sogar von 1848 bis 1938, zugrunde liegt. Nur daß sie im wesentlichen in dem Ackerbürgerstädtchen „Altenmarkt“ spielt, das der kundige Leser unschwer als den damals sehr ansprechenden Luftkurort Neumarkt in der Obersteiermark an der Grenze zu Kärnten erkennen wird. Heute laut Autor nur noch „ein Provinznest mit Durchgangsverkehr“.
Hauptfigur des Romans ist der Patriarch Vinzenz Hopfer, ein gestandenes Mannsbild, Sohn eines mit der Todesstrafe bedrohten Rebellen von 1848, der sich nach langen Jahren im Ausland unter einer neuen Identität in der obersteirischen Provinz niedergelassen hat. Hopfer baut seine Landwirtschaft, die Waldwirtschaft und die Gastwirtschaft „Zum wilden Mann“ aus, ist ein erfolgreicher Pferdezüchter, begründet ein Sägewerk mit Holzhandel, eine Schmiede und baut das erste Elektrizitätswerk der Region und darf sich so „Industrieller“ nennen.
Politisch ist er wie die meisten Honoratioren im Süden Österreichs großdeutsch-freisinnig und wird auch für einige Jahre zum Bürgermeister gewählt. Von seinen 15 Kindern erreichen elf das Erwachsenenalter. Dazu gibt es zwei außereheliche Kinder. Träumte er davon, im Ort eine wohlhabende Großfamilie für die nächsten Generationen zu bilden, so driften zuerst die beiden akademisch gebildeten Söhne in die Großstädte ab, andere gehen zum Militär, einer ergibt sich dem Suff, und die Töchter verheiraten sich zumeist auswärts. In einem Gefühl der allgemeinen Selbstzufriedenheit geht es bis zum Ersten Weltkrieg noch alles gut. Doch danach sind die gezeichneten Kriegsanleihen wertlos, die Inflation besorgt den Rest. Das Sägewerk und der Holzhandel liegen darnieder und ein verantwortungsloser Sohn verpfändet den Familienbesitz. Dazu kommen die politischen Turbulenzen im wirtschaftlich zerrütteten Österreich der Zwischenkriegszeit. Ein Sohn hält es mit dem klerikalen Ständestaat, andere weiter mit den National- Freiheitlichen, und manche Enkel mit den Nationalsozialisten.
Mölzer gelingt es, mit den Stammtischdebatten im „Wilden Mann“ und zehn eingestreuten „Reflexionen“ jeweils den zeitgeschichtlich-politischen Kontext jener turbulenten Epoche sehr schön anschaulich zu machen. Kurzum, ein sehrspannendes und trotz seines Umfanges absolut lesenswertes Buch. Angesichts seiner langen Entstehungsgeschichte stößt man gelegentlich auf Wiederholungen. Doch die Vielzahl an handelnden Personen hilft durchaus bei der Wiederaufnahme der Lektüre.
Als Postskriptum: Ich kenne und schätze Neumarkt und seine wunderbare Umgebung als damaligen Sitz der österreichischen Föderalisten auf Burg Forchtenstein durch jährliche Besuche und Vorträge seit den neunziger Jahren. Tempi passati. Mittlerweile ist auch jenes hübsche Städtchen durch Zersiedlung und innere Verödung schwer geschädigt. Es gibt auch eine sehr instruktive Stadtgeschichte von Walter Brunner „Geschichte von Neumarkt in der Steiermark“ (1985), die die Errungenschaften des tüchtigen Vinzenz Mölzer voll bestätigt. Dies als Geheimtip für künftige Literaturwissenschaftler.
Andreas Mölzer: Hopfer. Die Geschichte einer altösterreichischen Familie. Edition K3, Wien 2023, gebunden, 780 Seiten, 29 Euro