Eines war Hans Bernd Gisevius nicht abzusprechen: Umtriebigkeit. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wirkte er in den Reihen derer, die auf eine Beseitigung des NS-Regimes hinarbeiteten. Am 20. Juli 1944 war Gisevius im Bendlerblock, im Zentrum des scheiternden Staatsstreichs. Die unmittelbare Nähe zum Geschehen sowie die Tatsache, daß er einer der wenigen Überlebenden mit Kontakten zum engeren Verschwörerkreis war, verschafften ihm später eine Art Zeitzeugenmonopol. Nicht nur aufgrund seines Geltungsbedürfnisses wird er gern als „eine der schillerndsten Persönlichkeiten des Widerstands“ bezeichnet. Seine Schilderungen, insbesondere die Charakterisierung von beteiligten Persönlichkeiten, stehen bis heute in der Kritik. Der Publizist Rudolf Pechel, ein dezidierter NS-Gegner, bezeichnete Gisevius als den „Karl May des deutschen Widerstands“.
Der am 14. Juni 1904 im westfälischen Arnsberg geborene Gisevius studierte Jura und trat der DNVP bei. Sein Engagement gegen den Young-Plan brachte dem Gerichtsreferendar eine Strafversetzung ein, wegen Beleidigung des Reichskanzlers Heinrich Brüning wurde er verurteilt. Im Reichsvorstand seiner Partei strebte er nach einer Annäherung an die NS-Bewegung. Als er nach der „Machtergreifung“ die DNVP verließ, beschied er: „Der Parteienstaat ist tot.“
Erfolglos hatte sich Gisevius um die Leitung der entstehenden Gestapo bemüht. Er stand im Dienst des Reichs- bzw. Preußischen Ministeriums des Inneren. Von Amts wegen sprach er sich gegen ein ordentliches Gerichtsverfahren für den inhaftierten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann aus. Die von Gisevius erstrebte Karriere im Polizeidienst ließ sich nicht realisieren. Bereits im Oktober 1933 war er „reaktionärer Umtriebe“ beschuldigt worden, als man ihn von seiner Position im Polizeibefehlsstab bei den Olympischen Spielen 1936 enthob, wurde ihm durch Reinhard Heydrich bescheinigt, daß er „stets der Geheimen Staatspolizei alle erdenklichen Schwierigkeiten bereitet“ habe. Bei seiner Entwicklung zum NS-Gegner spielte die berufliche Zurücksetzung eine nicht unerhebliche Rolle.
Über Hans Oster fand Gisevius Anschluß an Kreise, die auf eine Beseitigung des Regimes hinarbeiteten. Oster war als Offizier bei der Abwehr, dem militärischen Geheimdienst tätig. Hier entfaltete er, gedeckt von seinem Vorgesetzten Wilhelm Canaris, erhebliche Widerstandsinitiativen. Umsturzpläne wurden entwickelt, die Blomberg-Fritsch-Krise des Frühjahrs 1938 war ein erster konkreter Anlaß. Die sogenannte Septemberverschwörung desselben Jahres scheiterte mit dem Münchener Abkommen, da nun der Grund zum Losschlagen, die eindeutig erkennbaren Kriegsbestrebungen Hitlers, zunächst obsolet geworden war. Gisevius wäre für den Polizeieinsatz zuständig gewesen. Bezüglich der Person Hitlers gab er der Idee Raum, daß man den „Führer“ vor der Öffentlichkeit so präsentieren müsse, als ob er selbst hintergangen worden sei, um den Verschwörern den Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern.
Oster sorgte 1940 dafür, daß Gisevius im Dienst der Abwehr nach Zürich entsandt wurde, offiziell als Vizekonsul. Er war dort vor allem für den Widerstand tätig. Besonders enge Kontakte pflegte er zum in der Schweiz ansässigen Vertreter des amerikanischen Geheimdienstes OSS, dem späteren CIA-Chef Allen W. Dulles. Gisevius informierte ihn über den Widerstand in Deutschland und warb um Unterstützung. Er betätigte sich zudem als Spion für die Amerikaner, etwa bezüglich der Entwicklung der V1- und V2-Raketen, Peenemünde konnte als Testgelände identifiziert werden. Er betrachtete dies als Widerstandsakt, hingegen hielt selbst der größte Teil der Verschwörer derartiges für Landesverrat.
Auf Anregung von Gisevius wurde in der Schweiz ein Devisenfonds für den geplanten Umsturz angelegt. Aus diesem Fonds wurden auch von Deportation bedrohte Berliner Juden unterstützt, deren Einreise die Schweiz nur gegen eine entsprechende Kaution gestattete.
Auf seinem Posten in Zürich fühlte sich Gisevius an den Rand der Widerstandsaktivitäten gedrängt. Als er am 9. Juli 1944 erfuhr, daß ein Attentat auf Hitler unmittelbar bevorstehe, begab er sich nach Berlin. Vor allem bei Ludwig Beck, dem ehemaligen Generalstabschef, der nach dem Umsturz als Staatsoberhaupt fungieren sollte, wurde er vorstellig. Er sprach sich gegen das Attentat aus und propagierte statt dessen eine „Westlösung“. Damit sollte den Westalliierten nach Öffnung der Front der Einmarsch ermöglicht werden. Die Sowjetunion, den Bolschewismus hatte der dezidierte Antikommunist Gisevius frühzeitig als größte Gefahr für die Zukunft ausgemacht.
Abfällige Kritik an den Attentätern des 20. Juli
Daneben hatte er sich bei Carl Goerdeler, der als Reichskanzler vorgesehen war, einen Staatssekretärsposten gesichert. Am 20. Juli 1944 kam er, auf eigene Initiative, in den Bendlerblock. Sein dortiges Agieren war schwer nachvollziehbar. So forderte er – als Zivilist – einerseits die Militärs vehement dazu auf, hohe Repräsentanten des Regimes umgehend zu erschießen, andererseits mahnte er zu vorsichtigem Handeln. Der Sache dienlich war dies alles nicht.
Gisevius konnte entkommen und er tauchte in Berlin unter. Im Januar 1945 gelangte er mit Hilfe des OSS in die Schweiz. Sowohl gegenüber Dulles als auch in seinem 1946 erschienenen Buch „Bis zum bitteren Ende“ übte er hämisch-abfällige Kritik an den Attentätern des 20. Juli, insbesondere an Stauffenberg. Gisevius schreckte nicht vor erfundenen Unterstellungen zurück, etwa daß diese einen Separatfrieden mit der Sowjetunion geplant hätten. Mit welcher Motivation die Herabsetzung geschah, muß offen bleiben. Eine Deutung besagt, daß die Sichtweise, es habe sich bei den Attentätern um Dilettanten gehandelt, die politisch in Richtung Osten gesehen hätten, beim Publikum, welches in der NS-Zeit begeistert, zumindest aber fügsam gewesen war, gut angekommen sei. Zudem sei so die ausgebliebene Unterstützung des Widerstandes durch die Westalliierten gerechtfertigt gewesen. Gisevius, der in Nürnberg umfangreich gegen NS-Repräsentanten wie Göring aussagte, andere, wie Innenminister Wilhelm Frick, in Schutz nahm, lebte nach dem Krieg in der Schweiz, in West-Berlin und war mehrere Jahre in den USA tätig. Am 23. Februar 1974 ist er gestorben.