Am 22. Februar 1924 wurde das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold durch sechs Sozialdemokraten, ein Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und ein Mitglied des Zentrums gegründet. Diese Zusammensetzung war alles andere als Zufall, denn sie entsprach dem Spektrum der „Weimarer Koalition“ der staatstragenden Parteien. Angesichts der Stärke der SPD, der Schwäche der DDP und einer gewissen Reserve auf seiten des politischen Katholizismus kann nicht überraschen, daß das Reichsbanner in erster Linie als sozialdemokratisch geprägte Organisation galt. An seine Spitze trat der Oberpräsident Magdeburgs Friedrich Otto Hörsing, ein Berufsfunktionär der Partei.
In den folgenden Jahren wurde das Reichsbanner mit zuletzt 3,5 Millionen Männern zum mitgliederstärksten politischen Kampfbund vor dem Stahlhelm und dem Jungdeutschen Orden, aber auch vor der Sturmabteilung (SA) der NSDAP und dem Roten Frontkämpferbund (RFB) der KPD. Allen diesen Organisationen gemeinsam war das uniformierte Auftreten in der Öffentlichkeit sowie die Übernahme bestimmter Formen militärischer Hierarchie, Symbolik und Disziplin. In der Regel verfügten sie aber nicht über eine (schwerere) Bewaffnung. Der praktische Nutzen der Bünde bestand vor allem in der Unterstützung von Propagandaaktionen und der Durchführung von Ordnerdiensten, vor allem wenn es galt, Veranstaltungen gegen Angriffe zu decken. Im Fall des Reichsbanners übernahm diese Aufgabe die sogenannte Schutzformation, der bis zu 400.000 vor allem jüngere Mitglieder angehörten.
Angesichts des in der linken Tradition tief verwurzelten Pazifismus, des Vorbehalts gegenüber der „reaktionären“ Reichswehr und allem, was als „Soldatenspielerei“ galt, und der sehr kleinen Zahl republikanisch gesinnter ehemaliger Offiziere kann man den Aufbau des Reichsbanners nicht als Selbstverständlichkeit werten. Was auch erklärt, warum dessen Führungsspitze Anstrengungen unternahm, ein Konzept des kämpferischen Republikanismus zu entwickeln, das an bestimmten Punkten deutlich von der Weltanschauung des Durchschnittssozialdemokraten abwich.
Im latenten Bürgerkrieg auf den Straßen Deutschlands eingesetzt
Im Mittelpunkt stand dabei das Bemühen, nicht nur den „Frontgeist“ in einer gereinigten Version zu erhalten, sondern auch auf die Traditionen des Vormärz und der Jugendbewegung zurückzugreifen und den nationalen Gedanken für die eigene Seite zu reklamieren. So war die Wahl des Namens und der Bezug auf die Farben Schwarz-Rot-Gold ausdrücklich mit der Forderung nach Schaffung einer „großdeutschen Republik“ verbunden, die „das ganze Deutschland, so weit die deutsche Zunge klingt“ (Walter Trojan), vereinen sollte. Das Reichsbanner wandte sich seit seiner Gründung immer wieder gegen das „Anschlußverbot“ für Österreich, das die Siegermächte 1919 verhängt hatten, und verlangte die Gründung eines europäischen Bundes, in dessen Mittelpunkt das „wiedervereinigte“ Deutschland gestanden hätte.
Es ist schwer zu sagen, wie tief derartige Ideen in die Köpfe der „Reichsbannersoldaten“ verankert waren. Jedenfalls wußte man in deren Führung sehr genau, daß dem Reichsbanner der aktivistische Geist fehlte, der die republikfeindlichen Wehrbünde auszeichnete. In vielerlei Hinsicht war man Organisation wie auch die SPD Organisation war. Aufschlußreich ist deshalb die Feststellung in einem Artikel der Verbandszeitung nach der „Erdrutsch“-Wahl vom 14. September 1930, die das Erstarken der Nationalsozialisten sichtbar werden ließ: Man könne zwar deren Politik als „sachlich sinnlos“ betrachten, doch müsse man zugeben, daß ihre „Methoden modern, an der Neuzeit geschult und mit guter Kenntnis moderner Massenpsychologie geschaffen“ seien, weshalb es gelte, von ihnen zu „lernen und das Brauchbare (es gibt viel Brauchbares) in unseren Arbeitsgang“ (Theodor Haubach) einzuschmelzen.
Die Vorstellung, aus dem Reichsbanner in kurzer Zeit eine „Parteiarmee“ wie die der Nationalsozialisten oder Kommunisten zu machen, war allerdings illusionär. Hinzu kam, daß sich Hörsing 1931 mit der Partei überwarf und aus dem Verband ausschied. Sein Nachfolger Karl Höltermann hatte angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krise der Republik die undankbare Aufgabe, das Reichsbanner in dem latenten Bürgerkrieg einzusetzen, der auf den Straßen Deutschlands ausgetragen wurde.
Nach einer Statistik der Berliner Polizei des Jahres 1931 gehörten von 8.248 getöteten oder schwerer verletzten Personen insgesamt 4.699 zu den Nationalsozialisten, 625 zum Stahlhelm, 1.696 zum Reichsbanner und 1.228 zu den Kommunisten. Bemerkenswert ist, daß das Reichsbanner in diesem Zusammenhang nie nur Opfer war. Die Unterlagen ergeben, daß Reichsbannermänner nach den Nationalsozialisten (2.589 Fälle) und vor den Kommunisten (1.133 Fälle) und Stahlhelmern (320 Fälle) den zweiten Rang unter den Tätern einnahmen (1.429 Fälle). Die Vorstellung eines rein defensiven Verhaltens ist jedenfalls ebenso abwegig wie die heute gern gesehene Interpretation als „antifaschistischer“ Kampfverband. Vielmehr richtete sich das Vorgehen des Reichsbanners regelmäßig auch gegen die Kommunisten. Der Berliner Polizeipräsident Albert Grzesinski, Sozialdemokrat und Reichsbannerführer, hatte nicht nur für das Verbot des RFB in Preußen gesorgt, sondern bei einem Aufmarsch im Herbst 1930 auch erklärt: „Ich sehe in den Nationalsozialisten nicht die Gefahr, für die man sie mancherorts hält; die größere Gefahr sind die Kommunisten, mit denen das Reichsbanner so schnell als möglich Schluß machen sollte.“
Dazu ist es nicht gekommen, obwohl das Reichsbanner unter Höltermann den Kern der am 16. Dezember 1931 neugeschaffenen Eisernen Front (EF) bildete. Es handelte sich dabei um eine Gegengründung zur sehr kurzlebigen „Harzburger Front“ von Nationalsozialisten und Deutschnationalen. Aber auch diese wesentlich militanter auftretende „Republikanische Kampforganisation“ versagte vor der Aufgabe, eine breitere Basis jenseits von SPD und Gewerkschaften zu gewinnen. Bezeichnenderweise waren die Einheiten der EF beim sogenannten „Preußenschlag“, der zur Absetzung der Regierung des Sozialdemokraten Otto Braun in Preußen führte, zwar aufgeboten, blieben aber ohne Einsatzbefehl. Zu dem Zeitpunkt, im Sommer 1932, war die Stimmung im Reichsbanner längst defätistisch. Offensichtlich stand zu wenig hinter dem Pathos der „Republikanischen Hymne“, die der Arbeiterdichter Karl Bröger für das Reichsbanner verfaßt hatte: „Deutsche Republik, wir alle schwören: / Letzter Tropfen Blut soll dir gehören!“
Höltermanns Versuch, nach Hitlers Machtübernahme in Kontakt mit der ungeliebten Reichswehr zu treten, um die Möglichkeit der Errichtung einer kommissarischen Militärdiktatur zu sondieren, war kaum mehr als ein Verzweiflungsschritt. Kurz darauf erfolgte das Verbot beziehungsweise die Selbstauflösung des Reichsbanners im März 1933. Seine Führer wurden durch das NS-Regime verfolgt. Höltermann selbst ging ins Exil. Die als Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold nach dem Zusammenbruch in der Bundesrepublik wiedergegründete Organisation hatte einen ganz anderen Charakter als der Kampfbund der Zwischenkriegszeit und mit ihrem Vorläufer kaum mehr als den Namen gemeinsam.