Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein“, notierte Goethe in „Dichtung und Wahrheit“, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.“
Dieser Forderung des Geistesriesen zu genügen ist heutzutage gar nicht so leicht; denn es setzt die Bereitschaft voraus, sich an der Fülle des Lebendigen zu freuen, wie es sich in fernen und ganz anderen Zeiten äußerte. Freude darf sich aber nur einstellen, solange anderes und Fremdes nicht vor „der Moderne“ versagte und deren angeblich berechtigten Ansprüchen. Hugo von Hofmannsthal, der gute Kenner vieler Kulturen, voller nie ermattender Neugier in dieser Welt als dauernd bewegter Geschichte auf das dramatische Zusammenleben der jeweiligen einzelnen mit den anderen, ist unter Deutschen längst zum Fremden geworden, der Welt von gestern als Gestriger angehörend, und deshalb nicht weiter von Belang.
Das Beziehungsdrama von Welt und Mensch veranschaulichen
Sein Geburtstag vor 150 Jahren, mit einiger Verlegenheit unlängst wahrgenommen (JF 5/24), nahmen Elsbeth Dangel-Pelloquin und Alexander Honold, zum Anlaß, mit einer umfangreichen Biographie auf diesen Mann, der keinen Schatten mehr wirft, hinzuweisen. Um gut sehen zu können, muß man den Sand aus den Augen kriegen, den die Gegenwart beständig hineinstreut, woran Hofmannsthal gelegentlich erinnerte. Die beiden Autoren beherzigten diesen Ratschlag nicht; sie meinten, wenn sie sich die Arbeit teilten, dem Modell einer Pluralität der Sichtweisen folgend, auf diese Weise angemessen der Lebenswelt und Schaffenswelt Hofmannsthals unter der Herausforderung der Moderne als Möglichkeitsraum gerecht zu werden. Jedes Leben ist ein Raum voller genutzter oder ungenutzter Möglichkeiten, unabhängig von der Moderne. Diese ist es aber, die als verpflichtende Idee Sand in die Augen streut und daran hindert, sich dem Gestern als einer trotz seiner Flüchtigkeit unverwelklichen Zeit anzunähern, „die nichts von der schalen Gegenwart weiß“, wie Hofmannsthal hoffte.
Was nun „die Moderne“ ausmacht, in der unterschiedliche Vorstellungen von neuen Kunst- und Lebensformen miteinander konkurrierten und in der auch der Protest gegen „die Moderne“ sehr zeitgemäß und modern war, bleibt ziemlich unklar, nicht zuletzt weil sich Elsbeth Dangel-Pelloquin der Lebenswelt Hofmannsthals zuwendet und Alexander Honold dessen Schaffenswelt behandelt, so daß die Lebensgeschichte und die Entwicklung des gar nicht so übersichtlichen Lebenswerkes zwei Möglichkeitsräume bilden, die vor lauter Möglichkeiten zu keiner Einheit finden.
Die Lebensgeschichte Hofmannsthals hat es mit zahllosen Menschen zu tun, die eines verbindet: sie nehmen sich unendlich wichtig und sind wegen ihrer verfeinerten und sehr reizbaren Nerven ununterbrochen hinter sich her und mit sich beschäftigt. Das gilt nicht nur für Dichter und Künstler, sondern auch für die recht alltäglichen Zeitgenossen, die alle ihr ganz eigenes Leben nicht versäumen wollen und, von Lebensgluten begeistert, zum Lebensglauben vorstoßen möchten, dem Ruf des Lebens, ihres ureigenen Lebens, gehorchend. Deswegen kam es immer wieder zu Zusammenbrüchen und Krisen der überspannten Nerven, ob bei Frauen oder Männern.
Hofmannsthal war kein scheuer Mensch. Erst alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. In diesem Sinne Goethes wollte er so viele Menschen und Kräfte wie möglich kennen, um Welt und Mensch und ihr großes Beziehungsdrama beispielhaft veranschaulichen zu können. Unsere Zeitgenossen, von der Aktualität und ihren Zwängen beherrscht, dürfen im Gegensatz zu Goethe und Hofmannsthal, keine Abenteurer sein und müssen sich auf das Hier und Heute beschränken und gut in Systemen und Subsystemen funktionieren. Ehedem berühmte Schriftsteller wie Rudolf Borchardt, Rudolf Alexander Schroeder, Richard Beer-Hoffmann, Hermann Bahr und Jakob Wassermann sind ihnen so unbekannt wie Männer aus Politik und Wirtschaft – Josef Redlich, Walther Rathenau oder Eberhard von Bodenhausen – und die vielen Damen und Herren aus der „guten Gesellschaft“, die sich in einem verzwickten Reich begegneten, zusammengehalten wie die Doppelmonarchie von geheimnisvollen Regeln und Übereinkünften. Namen über Namen, und alle mittlerweile Schall und Rauch.
Ein wahrer Europäer
ohne Angst vor dem Orient
Rund um Hugo von Hofmannsthal ließe sich eine deutsch-österreichische Gesellschaftsgeschichte entwerfen, wie Literatur, Wissenschaft, alter Adel und neuer, Politik, Militär, Wirtschaft und Kirche aufeinandertreffen, einander brauchen und sich ergänzen, um sich in einer ungemeinen beweglichen Umbruchszeit voller Spannungen und Verheißungen zurechtzufinden und sie in einer gewissen Ordnung halten. Hofmannsthal ist eine gesamtdeutsche Erscheinung wie Goethe oder Richard Wagner, die um sich zahllose Geister scharten und trotz mancher Vorbehalte überall Zutritt erhielten, weil sie Repräsentanten eines vagabundieren und deshalb viele in seinen Bann ziehenden Zeitgeistes waren, energisch darauf bedacht, ihre Freiheit in der Zeit und vor der Zeit zu bewahren. Gleich seinen großen Vorgängern war er ein europäisches Ereignis und ein wahrer Europäer, vertraut mit allen Tendenzen und Bestrebungen in Frankreich, England, Rußland und Italien. Ähnlich wie Goethe und Wagner hatte er keine Angst vor dem Orient, sondern sah in der oft gerade nicht versöhnten Spannung von Orient und Okzident das Lebenselixier der europäischen Sphäre im dauernden Zusammenhang mit einer weiten, euroasiatischen Welt, der alten Welt, unserer Welt, die sich nicht auf eine Richtung, eben die westliche, reduzieren ließe.
Einer solchen Geistes- und Sozialgeschichte wichen die Autoren aus. Sie beschränken sich auf einen Katalog von heute sogenannten Prominenten, ohne erklären zu können, warum der Dichter und moderne Intellektuelle auf den Umgang mit ihnen nicht verzichten wollte, ja auf ihn angewiesen war in der Absicht, in einer von Ideen und deren mehr oder weniger geisteichen Verfechtern aufgeregten Welt ihrer Welt nicht abhanden zu kommen. Darüber verlieren aber auch die Überlegungen zum Lebenswerk Hofmannsthals ihren Zusammenhang mit der Lebensgeschichte und Kulturgeschichte eines deutschen Europäers mitten in Europa. Auch hier werden Werke, Titel und Namen aneinandergereiht, ohne Lust, einen Zusammenhang und gar eine Werdelust schaffender Freude, in Anlehnung an Goethe, herzustellen oder zu verdeutlichen. Das ist nicht weiter verwunderlich, da Hofmannsthal nur in Verbindung mit den Opern von Richard Strauss noch zuweilen gegenwärtig ist. Seine Dramen werden kaum noch aufgeführt, auch die einst gefeierten Lustspiele – „Der Schwierige“ oder „Der Unbestechliche“ – sind vollständig unverständlich geworden, weil die Schauspieler keine Ahnung mehr haben vom Klang und Rhythmus der aristokratischen Ausdrucksweise mit deren Manierismen, die in ihrem Munde ganz natürlich klangen, begleitet von zwanglosen, anmutigen Gesten und nicht einem starren Benimm.
Da liegt es nahe, sich besonders auf den Kulturpolitiker, Organisator und Bildungspädagogen einzulassen und dessen Unzulänglichkeiten hervorzuheben, die bestätigen, wie weit wir es gebracht haben, frei von Vorurteilen und ideologischen Barrieren, wie der Nation oder dem Volk und seinem Schrifttum als geistigem Raum aller Deutschen. Solch schreckliche Peinlichkeiten lassen sich wenigstens etwas abschwächen mit den vielen Hinweisen auf den leidenschaftlichen Europäer Hugo von Hofmannsthal. Doch als solcher unterschied er sich nicht sonderlich von den meisten gebildeten Deutschen und Österreichern, die einige Sprachen beherrschten, viel reisten voll Verlangen, sich mit der kulturellen Vielfalt in Europa vertraut zu machen, ohne sich aber vor den Unterschieden zu ängstigen und sie aufheben zu wollen. Den großen Krieg, der 1914 ausbrach, begrüßte Hofmannsthal gerade als Europäer, ihn als Chance betrachtend, mit den Ideen von 1914, auf die sich die Mitteleuropäer im Deutschen Reich und Österreich-Ungarn beriefen, die westlichen Ideen von 1789 außer Kraft zu setzen, die während des 19. Jahrhunderts Eu-ropa auf Irrwege verlockten, die es verlassen müsse, um aus den mannigfachen Krisen im Abendland herauszufinden.
Das Abendland bedarf
einer geistigen Macht
Als Europäer verwarf er die Verwestlichung als gescheitert und erinnerte an die Deutsche Bewegung zur Goethezeit als heilsame Opposition der lebendigen Vernunft gegen den abstrakten Verstand, der Phantasie und Temperament, Elemente der Freiheit, ersticke. Europa bedarf daher eines starken Mitteleuropas, diesem Laboratorium der Moderne, von dem Mittel kommen, die den Geist aus ihn einengenden Bequemlichkeiten lösen und ihn stärken, den drohenden Untergang des Abendlandes aufzuhalten oder gar abzuwehren.
Mitteleuropa ist für Hofmannsthal die geistige Macht, auf die Europa angewiesen ist, will es nicht vollends aus dem Gleichgewicht und ins wirre Taumeln geraten. Von einer europäischen Einigung hatte er erheblich andere Vorstellungen als die heute erwünschten oder gebotenen. Darüber können auch verbindliche Redensarten nicht hinweghelfen. Über die deutsch-französische Verständigung gab sich Hofmannsthal keinen gutmütigen Illusionen hin. In Übereinstimmung mit Goethe verglich er das Verhältnis beider Völker mit der Mahlzeit des Fuchses und des Storchen. Sie sitzen beisammen am gleichen Tisch, interessiert und munter, aber sie können ihre Speisen nicht miteinander teilen.
Daran erinnert Elsbeth Dangler-Pelloquin, aber sie beläßt es bei der bloßen Anekdote. Ähnliches wiederholt sich immer wieder. Historisches Denken beruht darauf, die Dinge zu komplizieren, um sie zu verstehen. Das widerspricht den Gewohnheiten der allerneuesten Neuzeit, die auch zu den Gewohnheiten der Verfasser von Büchern und ihres Publikums gehören: sich auf Gedanken, die ungewohnt sind, nicht weiter einzulassen oder sie zu tadeln und zu verwerfen, weil sie den „westlichen Werten“ widersprechen, was auch in diesem Fall häufig genug geschieht.
Elsbeth Dangel-Pelloquin / Alexander Honold: Grenzenlose Verwandlung. Hugo von Hofmannsthal. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024, gebunden, 986 Seiten, 58 Euro