Es ist das vielleicht stärkste Bild, das Jonathan Glazer für seinen an ausdrucks- und symbolstarken Bildern nicht gerade armen Film gefunden hat: Lagerkommandant Rudolf Höß (Christian Friedel) steht im Halbdunkel vor dem kleinen Schwimmbecken in seinem Garten in der Bielitzer Straße 88 und raucht eine Zigarette. Und hinter ihm raucht es auch: Dort kommt der Rauch aus dem Schornstein eines Krematoriums in dem Lager, dessen Kommandant er ist. Kurz zuvor hat Glazer den Zuschauer mit hineingenommen in eine Besprechung im Hause Höß: Da wurde mit deutscher Gründlich- und Gewissenhaftigkeit erörtert, wie das Einäscherungssystem von Auschwitz-Birkenau in Anbetracht des wachsenden Bedarfs optimiert werden kann.
Versuche, sich dem Grauen der Shoah auf neuartige und so noch nicht gesehene Weise zu nähern, hat es schon viele gegeben. Und je öfter das Kino das Thema bearbeitet, desto mehr wird ein origineller Ansatz zum Gebot der Stunde. Einen solchen hat der britische Regisseur zweifellos gefunden, allerdings nicht mit der Idee, das Privatleben eines Lagerkommandanten in unmittelbarer Nähe des von ihm beaufsichtigten KZ zu zeigen. Denn die lag schon dem Roman „Der Junge im gestreiften Pyjama“ (2006, verfilmt 2008) zugrunde. Glazers Bearbeitung einer Romanvorlage des inzwischen verstorbenen britischen Schriftstellers Martin Amis ist jedoch nicht wie die Verfilmung des Buches von John Boyne eine klassische Filmerzählung, sondern ein sprödes Experimentalwerk voller nachhaltig verstörender Verfremdungseffekte.
Alltagsmomente, die an Banalität kaum zu übertreffen sind
Höß, ein klassischer NSDAP-Aufsteiger, versah bereits seit 1934, dem Jahr seines Eintritts in die SS, seinen Dienst im deutschen Lagersystem. Am 1. Mai 1940 wurde er, zuvor in Sachsenhausen eingesetzt, Lagerkommandant von Auschwitz, das er zum größten Konzentrations- und Vernichtungslager ausbaute. Doch die Vita des SS-Mannes interessiert Glazer wenig, dafür sein beschauliches Leben mit Ehegattin Hedwig (Sandra Hüller) in dem großzügig angelegten Anwesen, dessen Grundstücksgrenze der Zaun des Konzentrationslagers bildet. Richtig verliebt ist Hedwig in das Haus, das frisch renoviert und aufgemöbelt wurde. Die Dame des Hauses hält darin Hof wie eine Monarchin. „Der Rudi nennt mich die Königin von Auschwitz“, erzählt sie stolz den Freundinnen, die sie in ihrem trauten Heim besuchen – der Zone, der ihr ganzes Interesse gilt. Schwimmbad, Blumengarten und Gewächshaus machen sie für Hedwig und ihre Kinder zu einem kleinen Idyll. Hinter einem Wall, der das im Familienkreis kaum je zum Thema gemachte Lager verschwinden läßt: ein malerisch gelegener See, der zu Freizeitvergnügungen einlädt. Hausherr Rudolf, an dessen etwas hektisch verlaufendem Geburtstag der Film beginnt, hat freilich kaum Zeit, sein Leben an der Auschwitz-Mauer zu genießen: zu viel zu tun!
Ein Schatten fällt in Hedwigs Paradies und sie aus allen Wolken, als ihr Gemahl ihr eröffnet, daß er als Lagerkommandant abgelöst und nach Oranienburg versetzt werden soll. Vergeblich hat sich Gauleiter Fritz Bracht für seinen Verbleib eingesetzt: Im November 1943 wird Höß in die für KZ-Angelegenheiten zuständige Abteilung im Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA) abkommandiert. „Das ist unser Zuhause, Rudolf!“ begründet Hedwig ihre Weigerung, ihrem Mann in den Westen zu folgen. Irritiert registriert der Zuschauer: Was hinter ihrer Gartenmauer geschieht, ist für Hedwig Höß in keiner Weise von Belang. Das Lager: für sie nur eine langweilige Fabrik.
Würde es sich bei „The Zone of Interest“ um einen Schulaufsatz handeln, dann wäre die „Banalität des Bösen“ das Thema. In Dokumentarfilm-Manier läßt Glazer die Kamera durch die Zimmer des Hauses Höß oder durch den großen Garten streifen, der unmittelbar an das Lager grenzt, läßt sie Alltagsmomente einfangen, die an Banalität kaum zu übertreffen sind. Hedwigs neuer Mantel, eine Märchenstunde mit „Hänsel und Gretel“ für den Höß-Nachwuchs, eine Beschwerde über rücksichtslose SS-Männer, die im Lager Fliederbüsche beschädigt haben: das alles soll natürlich Hannah Arendts berühmtes Diktum von der „Banalität des Bösen“ exemplifizieren, für das Rudolf Höß genauso steht wie sein Kollege Adolf Eichmann, dessen Prozeß Arendt 1961 zu dem geflügelten Wort inspirierte.
Glazers avantgardistisch-experimenteller Ansatz, mit einer Reihe von Geduldsproben, aber auch immer wieder überraschenden Szenenwechseln, fordert den Zuschauer maximal heraus. Der Film beginnt damit, daß er ihn zu gruselig-dissonanten Klängen (Musik: Mica Levi) erst mal minutenlang auf eine schwarze Leinwand starren läßt, eine Art Ouvertüre, die das Verfahren, mit dem der 58jährige sich dem Grauen nähert, antizipiert: Man kann die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um die es ja eigentlich geht, zwar ab und zu hören – in Form von Schreien oder Schüssen im Hintergrund –, aber zu sehen bekommt man sie nie.
„The Zone of Interest“ entstand in Polen und ist in fünf Kategorien für den Oscar nominiert, dürfte allerdings in den Sparten „Bester Film“ und „Beste Regie“ nur Außenseiterchancen haben, weil die Juroren der Akademie allzu avantgardistischer Filmkunst eher die kalte Schulter zeigen. Siegt er in Hollywood, wäre das ein echter Knaller. Beachtlich ist Jonathan Glazers Film indes auch ohne Preis. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der Leute, die keineswegs als skrupellose Verbrecher erscheinen, sondern als Menschen wie du und ich, selbst gröbste Tabubrüche in puncto Menschen- und Bürgerrechte in ihren Alltag integrieren, ist ein Warnschuß auch für unsere bundesrepublikanische Gegenwart. Wie üblich werden Linke und Rechte diese Tabubrüche natürlich mal wieder in ganz unterschiedlichen Zonen verorten – je nachdem, wo ihr Interesse liegt.