Alexej Nawalny hat jetzt endgültig den Status eines Märtyrers. Zumindest für die westliche Welt und die innerrussische Opposition. Die Empörung über den Tod des inhaftierten Kreml-Kritikers ist groß. In Berlin wurde der russische Botschafter einbestellt. „Die Europäische Union ist schockiert über den Tod des 47jährigen russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, für den letztlich Präsident Putin und die russischen Behörden die Verantwortung tragen“, heißt es in einer durch den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell veröffentlichten Erklärung von 27 EU-Ländern.
Am 16. Februar teilen russische Medien mit, daß der in eine sibirische Strafkolonie nördlich des Polarkreises verbannte Nawalny verstorben sei. Er habe sich „nach einem Spaziergang unwohl gefühlt“ und „fast sofort das Bewußtsein verloren“. Es sei nicht gelungen, ihn wiederzubeleben.
International kommt es zu entsetzten Reaktionen. Nawalnys Ehefrau, Julija Borissowna Nawalnaja, befindet sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz und soll an jenem Tag mit einer Rede an den Inhaftierten erinnern. Statt dessen erreicht sie die Nachricht seines Todes. „Wenn das wahr ist“, betont sie während ihrer Rede „dann möchte ich, daß Putin und alle in seinem Umfeld, Putins Freunde, seine Regierung, wissen, daß sie die Verantwortung für das tragen werden, was sie unserem Land, meiner Familie und meinem Mann angetan haben.“
Noch am Tag vor seinem Tod soll der Dissident während einer für das Gericht aufgenommenen Videonachricht gut gelaunt gewesen sein und auf Kosten des Richters gescherzt haben, wie die Nachrichtenagentur Reuters meldet. Mit Nawalny verliert die innerrussische Opposition ihr bekanntestes Gesicht. Im Westen wurde der Dissident und Antikorruptionspolitiker vor allem durch den auf ihn im Jahr 2020 verübten Giftanschlag bekannt. Geboren am 4. Juni 1976 im Oblast Moskau gelegenen Butyn erhält Nawalny nach dem Studium der Rechtswissenschaften und anschließend des Börsenwesens 2010 nach Angaben der Deutschen Welle ein viermonatiges Stipendium für aufstrebende Führungskräfte an der US-Eliteuniversität Yale und nimmt am „Greenberg World Fellows Program“ teil.
Parallel fällt er in Rußland als überzeugter russischer Nationalist auf. Er baut die Natsional‘noye russkoye osvoboditel‘noye dvizheniye (Nationale Russische Befreiungsbewegung) auf und wird deren Co-Vorsitzender. Die Bewegung stellt sich unter anderem gegen die verstärkte Einwanderung von Kaukasiern in die vorwiegend russisch geprägten Städte westlich des Ural. Einige der Aussagen, die Nawalny in diesem Zusammenhang tätigt, werfen ihm Kritiker bis heute vor. So bezeichnet er kaukasische Einwanderer als „Kakerlaken“ und fordert während des russisch-georgischen Krieges von 2008, alle Georgier aus der Russischen Föderation auszuweisen. Die illegale Immigration nach Rußland bezeichnet er als eines der größten Probleme des Landes. Am 22. Oktober 2011 organisiert er den „Russischen Marsch“ der nationalistischen Kräfte in Moskau mit.
Bei einer Wahl in Moskau holt er
27 Prozent der Stimmen
Im selben Jahr wird er erstmals wegen Unterschlagung zu fünf Jahren Haft verurteilt und ihm sein Status als Anwalt entzogen. Zu diesem Zeitpunkt steht er an der Spitze eines neu geschaffenen Koordinierungsrates der russischen Opposition und sorgt mit seiner 2011 gegründeten „Stiftung für Korruptionsbekämpfung“ für Aufregung. Seit er bei der Bürgermeisterwahl in Moskau im September 2013 27 Prozent der Stimmen erzielt hat, gilt er als Anführer der Anti-Putin-Opposition. Immer wieder macht er mit Videos auf sich aufmerksam, in denen er Putin und dem Kreml Korruption vorwirft – oft mit brisanten Informationen. Nach seinem Tod spekuliert der Osteuropahistoriker Alexander Rahr im Kontrafunk, daß Nawalny Teil eines Machtkampfes innerhalb der russischen Eliten gewesen sei und von einzelnen hochrangigen KGB-Agenten mit Informationen versorgt worden sein könnte.
Die deutschen Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse, wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin, merkt allerdings an, daß es der Politiker bewußt vermeide, sich auf ein politisches Programm für die Zeit nach Putin festzulegen. Die Annexion der Krim befürwortet der aus einer ukrainisch-russischen Familie stammende Nawalny, auch wenn sie „unter ungeheuerlicher Verletzung jeglicher internationaler Normen“ erfolgt sei.
Schon 2013 gewinnt der Fall Nawalny eine Bedeutung, die weit über Rußland hinausreicht. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kassiert die Urteile gegen Nawalny. Auch der Oberste Gerichtshof Rußlands hebt das Urteil auf. Allerdings wird Nawalny nach der Neuaufnahme des Prozesses erneut zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt. Damit kann die Zentrale Wahlkommission Rußlands seine Kandidatur für nicht zulässig erklären. Nawalny ruft daraufhin seine Anhänger zum Boykott der Präsidentschaftswahl auf.
Am 20. August 2020 wird Nawalny Opfer eines Giftanschlags mit dem Nervengift Nowitschok. Er überlebt knapp und wird zur weiteren Behandlung in die Berliner Charité verlegt. Im Januar 2021 kehrt Nawalny trotz drohender Verhaftung nach Rußland zurück, wo er noch auf dem Flughafen in Moskau wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen – er hätte Rußland nicht verlassen dürfen – festgenommen und in Untersuchungshaft genommen wird. Nawalny wird verurteilt, in eine Strafkolonie gebracht. Geradezu grotesk mutet aus westeuropäischer Sicht das folgende Katz- und- Maus-Spiel an, wenn etwa den Anwälten des Inhaftierten bei einem Vorortbesuch im Straflager mitgeteilt wird, daß es einen Verurteilten namens Alexej Nawalny in der Strafkolonie Pokrow nahe Moskau nicht gebe. Der Kreml-Kritiker ist verlegt worden, und es dauert, bis Angehörige und Anwälte über den neuen Aufenthaltsort informiert und Kontakt zu dem Inhaftierten hergestellt werden konnte. „Alexej sagt immer, daß sein Leben in Gefahr ist, deshalb besuchen wir Anwälte ihn so oft wie möglich im Straflager“, zitiert die Tagesschau damals Anwältin Olga Michajlowa.
Ende September 2023 wird bekannt, daß Nawalny wegen „Unverbesserlichkeit“ für zwölf Monate in eine Disziplinar-Zelle verlegt werde, also die im russischen Strafvollzug schärfste Form von Isolationshaft. Erneut für Schlagzeilen sorgt Mitte Dezember ein Gerichtsentscheid, daß Nawalnys Klage gegen seine Haftbedingungen nicht weiterverfolgt werde, weil dieser „erneut“ nicht zur Gerichtsverhandlung erschienen sei. Wohlgemerkt, der Geladene befand sich zu diesem Zeitpunkt in Haft, allerdings wissen weder Richter noch Anwälte oder Familienangehörige, wo. Später wird bekannt, daß der Regimegegner am 11. Dezember in die Charp in Westsibirien, in die Strafkolonie Nr. 3 „Polarwolf“, überstellt ist. Von dort meldet sich der Dissident zu Wort und betont, daß es ihm gut gehe. Zwei Monate später wird sein Tod gemeldet.