© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/24 / 23. Februar 2024

Das Reform-Gespenst jagt die Tories
Großbritannien: Nigel Farages Rechtspartei könnte die Konservativen in den Abgrund schieben
Julian Schneider

Die Umfragewerte für die britische Tory-Regierung sind zum Verzweifeln schlecht. Geschieht nicht noch ein Wunder, dürfte die Konservative Partei von Premierminister Rishi Sunak in eine vernichtende Niederlage steuern bei den Parlamentswahlen dieses Jahr. Nach 14 Jahren an der Macht droht die Abwahl. Eine dreistellige Zahl von Tory-Abgeordneten wird ihre Mandate verlieren. Nach aktuellen Umfragen käme Labour auf eine gigantische Mehrheit von etwa 250 Sitzen in Westminster.

Es ist dabei nicht nur der seit Monaten stabile Vorsprung von rund 20 Prozentpunkten der Labour-Partei, der viele Tories verzweifeln läßt. Auch von rechts werden die Tories durch die Reform-UK-Partei in die Zange gekommen. Reform ist die Nachfolgerin von Nigel Farages Ukip- und später Brexit-Party, formell angeführt von Richard Tice, einem schwerreichen Immobilienunternehmer. Bislang war Reform in der britischen Politik nur ein Randphänomen. Doch in Umfragen ist sie auf elf Prozent geklettert. Immer mehr enttäuschte Tory-Wähler laufen über. Im Mehrheitswahlsystem, wo schon wenige hundert Stimmen in einem Wahlkreis zum Zünglein an der Waage werden, könnte die Kleinpartei den Tories empfindlich wehtun.

Ein Großteil der Tories hat mittlerweile „kapituliert“

Das zeigte bei den Nachwahlen in den Wahlkreisen Kingswood und Wellingborough vor einer Woche, wo die Konservativen krachend verloren und Labour triumphierte. Reform schob sie auf den dritten Platz mit 10,4 Prozent beziehungsweise 13 Prozent. In Kingswood in Südwestengland hätten die Tories den Wahlkreis halten können, hätten sie alle Reform-Stimmen bekommen.

„Reform UK ist jetzt ernsthaft in die Wahlschlacht eingetreten“, urteilt der in England bekannte Politikprofessor John Curtice. Der Kampf um die Stimmen enttäuschter Konservativer sei voll entbrannt. „Reform ist eine signifikante Herausforderung“, warnt auch Meinungsforscher James Kanagasooriam von Focaldata in der Times. Reform-Wähler seien „enge Verwandte“ der Konservativen, sie wünschten sich ein härteres Vorgehen gegen die Kriminalität, seien skeptisch über die Kosten der Klimapolitik und wollten die Immigration bremsen. Nach den turbulenten Jahren  der Tory-Regierung mit fünf Premiers – Cameron, May, Johnson, Truss und jetzt Sunak – sind viele ernüchtert. Sie glauben nicht, daß Premierminister Sunak seine Versprechen noch einhalten kann.

Sunak hat sich vorige Woche bei einem Wahlkampfforum des rechten TV-Senders GB News erstmals direkt zu der Bedrohung geäußert. Jede Stimme für Reform UK sei effektiv eine Stimme für Labour-Chef Keir Starmer, warnte er. Sie helfe, Starmer in die Downing Street zu lassen. Sunak, seit Oktober 2022 Regierungschef, hat allen Grund, die Wahlen zu fürchten. Seine persönlichen Popularitätswerte sind mittlerweile die schlechtesten, die jemals für einen britischen Premier in der jüngeren Geschichte gemessen wurden. Nigel Farage, der als Moderator für GB News arbeitet, reagierte eher amüsiert auf Sunaks Aussage. „Die große Mehrheit der Reform-Wähler sind Wähler, die 2019 die Konservativen gewählt haben. Aber wissen Sie was, Rishi Sunak wird sowieso verlieren. Es macht gar keinen Unterschied mehr.“

Das stimmt allerdings nicht ganz. Wandern zu viele Wähler zu Reform ab, könnte aus einer Tory-Niederlage ein Tory-Desaster werden. Es droht eine schwerere Niederlage als 1997 am Ende von John Majors Amtszeit, als die Konservativen halbiert wurden. Manche sehen gar eine historische Parallele zur Implosion der Konservativen Partei in Kanada: Dort bewirkte das Aufkommen einer „Reform“-Partei, daß die traditionelle Konservative Partei 1993 bis auf zwei Abgeordnete ausradiert wurde. Reform ersetzte die Konservativen, bis sie Jahre später fusionierten.

Auf dem rechten Parteiflügel der britischen Tories grummelt es vernehmbar. Ein Zeichen für die Nervosität war jüngst ein gescheiterter, eher dilettantischer Putschversuch gegen Sunak, eingefädelt von Simon Clark, einem Verbündeten von Kurzzeitpremierministerin Liz Truss. Weitere „Coups“ und „Plots“ könnten folgen, erwartet das Magazin The Spectator. Bei vielen Tories herrscht Endzeitstimmung. Fast 60 Abgeordnete haben schon angekündigt, bei der kommenden Wahl nicht mehr kandidieren zu wollen, darunter etliche Minister und Ex-Minister. Sie haben innerlich kapituliert.

Truss selbst hat vor kurzem eine neue Kampagnengruppe namens „Popular Conservatism“ gegründet, abgekürzt „PopCons“. Es gebe „viele heimliche Konservative“ im Land, die ihr Programm von Steuersenkungen und gegen „woke Linksextreme“ unterstützten, meinte sie dort. Farage war bei der Auftaktveranstaltung dabei (angeblich nur als beobachtender Journalist). Der Name „Popular Conservatives“ gab Anlaß zu Spott: Truss’ Popularitätswerte sind unterirdisch schlecht, noch viel stärker negativ als die von Sunak.

Nigel Farage läßt sich nicht in die Karten schauen, was er plant. Der langjährige Europaabgeordnete und Brexit-Vorkämpfer, der dann zum Sender GB News ging, versteht es perfekt, Politik und Show zu verbinden. Voriges Jahr erregte er viel Aufmerksamkeit mit seinem lukrativen Aufenthalt im Dschungel-Camp in Australien, wo er Känguruhhoden aß und durch ekligen Schlamm kroch. Als Politiker firmiert er aktuell nur als „Ehrenvorsitzender“ von Reform UK. Doch gleichzeitig, was kaum jemand weiß, ist er der Haupt-Eigentümer der Partei. Denn diese ist als eine Aktiengesellschaft organisiert, wie Tom McTague im Magazin UnHerd schildert. Farage hält die Mehrheit, Parteichef Richard Tice und die Vizechefs sind Minderheitsaktionäre.

Farage fühlt sich zu jung 

für das Leben eines Politrentners 

Manche spekulieren, daß Farage nach einer vernichtenden Niederlage der Sunak-Regierung in die Tory-Partei eintreten und sich um den Vorsitz bewerben könnte. Darauf angesprochen, grinst Farage meist nur schelmisch. Der 59jährige fühlt sich zu jung für ein Dasein als Politrentner, er sprüht weiterhin vor Energie und Ehrgeiz. Als Favoriten für den Tory-Vorsitz in der Zeit nach Sunak gelten Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch, eine Schwarze, die sich gegen woke Identitäts- und Genderpolitik stemmt, sowie Penny Mordaunt, die sich als Schwert-Trägerin bei König Charles’ Krönung hervorgetan hat, von vielen Konservativen aber mißtrauisch als zu links eingeschätzt wird. Manche Beobachter sagen, mit Farage als Vorsitzendem würden die Tories vollends ins Abseits geraten, da der Brexit inzwischen nur noch bei einer Minderheit populär ist

Labour beobachtet still genießend, wie sich die Rechte in England zerfleischt. Die Partei von Keir Starmer sieht sich auf der Zielgeraden in die Downing Street. Zwar kämpft auch sie noch mit internen Reibereien – etwa weil sie nach antisemitischen Ausfällen jüngst wieder zwei Parlamentskandidaten ausschließen mußte. Die Haltung zum Israel-Hamas-Krieg in Gaza spaltet die Partei, die von vielen Muslimen gewählt wird. Doch Starmer kann bislang die Kritiker auf Abstand halten. Höchstwahrscheinlich wird er nächster Premier. Danach wird sich das geschlagene konservative Lager neu sortieren.