Auch den jüngsten Fall der lange umkämpften Industriestadt Awdijiwka konnte niemand mit absoluter Sicherheit voraussehen. Während in den ersten Tagen der russischen Invasion vor zwei Jahren sich etliche Experten, Beobachter und Kommentatoren damit überboten, wer der Ukraine weniger verbleibende Lebenszeit einräumt, war die Stimmungslage nach der Rückeroberung der Stadt Cherson und der Oblast Charkiw eine gänzlich andere. Plötzlich war man sich sicher, daß die Ukraine die Russen jetzt aufrollen und bis zur südlichen Krimspitze durchmarschieren würde.
Doch seit dem Sommer 2023 geht es für die Ukraine eigentlich nur noch rückwärts. Langsam, aber stetig baut Rußland mehr Druck auf. Im Kreml weiß man, daß Krieg gemäß Clausewitz ein Test des Willens und der Logistik ist. Und Wladimir Putin hat diesen Willen und glaubt, daß der Wille der westlichen Staaten, die die Ukraine wesentlich unterstützen, bröckelt. Schon jetzt zeigen sich beachtliche Risse in der Koalition der Partner Kiews. Die Ernüchterung ist ein Vorbote der Verzweiflung, die sich vielerorts an der Front breitmacht. Die ukrainischen Soldaten kämpfen für ihr Vaterland und sind motiviert, beseelt vom Mut der Verzweiflung. Aber es fehlt schlicht an Waffen und Munition.
Der Westen liefert, aber die Hilfe kleckert, statt daß sie klotzt. Die USA könnten aus ihren beachtlichen Depots Zehntausende Kampffahrzeuge liefern, ohne daß es sie schmerzt. Sie tun es aber nicht. Etliche der Ukraine wohlgesonnene Analysten äußern bereits den Verdacht, daß die USA gar nicht wollen, daß Kiew siegt, sondern nur, daß sie langsamer verliert oder höchstens ein Patt aufrechterhält. Die EU hingegen verspricht viel, kann aber nicht in ausreichender Menge liefern.
Zwar erhält die Ukraine teilweise hochmoderne und überlegene Waffensysteme aus US-Produktion wie präzisionsgelenkte Boden-Boden-Raketen für die Mehrfachraketenwerfer HIMARS und MLRS vom Typ GMLRS, die mehrere Raketen via GPS auf fern gelegene Ziele abfeuern können, ballistische Kurzstreckenraketen wie ATACMS und präzise Marschflugkörper wie Storm Shadow – aber nichts davon in auseichender Menge, um eine echte Wende herbeizuführen.
Die Menge der Rüstungsgüter reicht einfach nicht aus
Trotz Erfolgen mit diesen Systemen, bewahrheitet sich, daß die Quantität eine Qualität für sich selbst besitzt und die russischen Pendants zwar technisch meist unterlegen, aber in so großer Zahl verfügbar sind, daß der Nachteil wettgemacht wird. Für jedes moderne Artilleriesystem der Ukraine bieten die russischen Streitkräfte das Doppelte, Dreifache oder Fünffache auf.
Wo die Ukraine im Sommer durch Sparen von Granaten und sammeln der Systeme stellenweise das russische Artillerieübergewicht ausgleichen oder sogar überbieten konnte, muß sie derzeit mit ansehen, wie Rußland Zehntausende Granaten pro Tag verschießt. Ukrainische Artilleristen hingegen sind froh, wenn sie pro Tag einmal richtig schießen und dann treffen können. Dabei erinnern die Schlachtfelder in der Ukraine vielerorts an den Ersten Weltkrieg. Soldaten stehen sich in ausgebauten Gräben und Stellungssystemen gegenüber, und die meisten Verluste erleiden beide Seiten durch Artillerie – oder heute Drohnen.
Oftmals sind das umgebaute handelsübliche Lastendrohnen, die Granaten aus ein paar Dutzend Metern Höhe abwerfen oder sich, wie die First-Person-View-Drohnen (FPV-Drohnen), von Drohnenpiloten mit VR-Brille (Visual-Reality-Brillen) direkt in die Ziele, das heißt Kampfpanzer und Gruppen von Soldaten steuern lassen. Manche Kommandozentralen sehen aus wie aus einem futuristischen Film, in dem Soldaten wild mit den Händen gestikulierend mit großen VR-Brillen in Lagerhallen stehen, während sie Drohnen viele Kilometer entfernt steuern. Die Waffen an der Front sind auf beiden Seiten eine seltsame Mischung aus 70 Jahre alten Haubitzen und Vorboten der High-Tech-Kriege der Zukunft.
Während Rußlands Rüstungsindustrie im letzten Jahr mit enormem Aufwand auf Kriegswirtschaft umgestellt wurde und am laufenden Band neue Kampffahrzeuge aufs Feld wirft und alte aus den Depots wieder tauglich macht, muß die Ukraine zusammenkratzen, was aus dem Ausland kommt oder was im eigenen Land noch in geringer Stückzahl produziert werden kann.
Hinzu kommt, daß selbst Staaten wie das kommunistische Nordkorea für Rußland offensichtlich ihre gigantischen Arsenale geöffnet haben, während aus dem Iran Raketen und Drohnen kommen und aus China alles andere, was die russische Wirtschaft vom Westen nicht erhält.
Rußland verwendet seine Soldaten wie Verbrauchsgüter. In Wellen in der Schattenmobilisierung aufgestellt, reihen sie sich an der Front wie Patronen ein. Zwar schont auch die Ukraine ihre Männer nicht, muß aber einsehen, daß ihr Aufwuchspotential nur noch gering im Vergleich zu Rußland ist. Irgendwann werden die Demographie und die wütende Witwenbevölkerung jeder geplanten weiteren Mobilmachung ein Ende setzen. Angesichts der Entwicklung ist zu befürchten, daß Rußland seine Geländegewinne in diesem Jahr in der rohstoffreichen Ostukraine und am Schwarzen Meer ausbauen kann, während die Ukraine darum kämpft, zurückgewonnene Gebiete in Charkiw und Cherson nicht wieder zu verlieren oder andernorts schlimmere Einbrüche zu erleiden. Der Fall von Awdijikwa könnte ein Vorbote gewesen sein.