© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 09/24 / 23. Februar 2024

Ein vernichtendes Zeugnis
Bericht zu Afghanistan-Einsatz: Die Enquete-Kommission des Bundestages spricht von einem „strategischen Scheitern“
Christian Vollradt

Gescheitert. Mit diesem einen Wort läßt sich das Resümee des Zwischenberichts der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ knapp und zutreffend zusammenfassen, der diese Woche fertiggestellt und im Bundestag vorgelegt wurde. Der „größte, teuerste, opferreichste Kriseneinsatz der – vor allem westlichen – Staatengemeinschaft“ endete „mit einem strategischen Scheitern“, heißt es schonungslos in dem Papier. 

Daß die Bilanz verheerend ist, für diese Einsicht hätte es der mehr als 300 Seiten wahrscheinlich gar nicht bedurft. 59 gefallene oder gestorbene Bundeswehrsoldaten, zudem drei Bundespolizisten, die ihr Leben im Einsatz ließen; von den zigtausend getöteten Afghanen gar nicht zu reden. Dazu allein auf deutscher Seite Kosten von mindestens 17 Milliarden. Um dann nach zwanzig Jahren zu erleben, wie die 2001 von der Macht vertriebenen Taliban die Herrschaft zurückerobert haben, wie die Republik untergeht, ihre Streitkräfte am Ende kampflos die Waffen strecken und sich der Präsident mit einem Teil des Staatshaushalts ins Ausland absetzt. Augenfällig wurde das ganze Debakel dann mit dem überstürzten und chaotischen Abzug der westlichen Botschaften im August 2021, den furchtbaren Szenen am Flughafen von Kabul. Das waren genau jene „Saigon-Bilder“, die Angela Merkel (CDU) „unter allen Umständen“ verhindern wollte. Ausweislich von Zeugenaussagen und Dokumenten aus der Berliner Regierungszentrale hatte die damalige Bundeskanzlerin bereits im Januar 2021 mit der Machtübernahme der Taliban am Hindukusch gerechnet. Dennoch gab es genau solche Bilder; und so ist auch das letzte, kleinste Vorhaben, nämlich einigermaßen gesichtswahrend aus dem Einsatz herauszukommen, letztlich gescheitert. 

„Deutschland nicht am Hindukusch verteidigt“

Gefehlt habe es an „Landeskenntnis“ oder „einer Erkundung des Gastlandes, seiner Gesellschaft und Partner“. Zudem seien sich die Verbündeten uneinig „über die Strategie im Umgang mit den Aufständischen“ gewesen. Die zuständigen Berliner Ministerien, also Auswärtiges Amt, Entwicklungshilfe-, Verteidigungs- und Innenministerium hätten sich nicht hinreichend abgestimmt, kritisieren die Enquete-Mitglieder, außerdem hätten für die angestrebte Stabilisierung „nicht immer die notwendigen Kräfte/Mittel zur Verfügung“ gestanden. 

„Ausrüstung und Fähigkeiten der Bundeswehr“ seien „nicht dynamisch genug an die Bedrohungslage in Afghanistan angepaßt“ worden. Auch habe man „die Kapazitäten der afghanischen Partner“ über-, den zunehmenden Einfluß der Taliban dagegen unterschätzt. Und noch etwas schreiben die Autoren des Berichts sämtlichen Kabinetten, die zwischen 2001 und 2021 regierten, ins Stammbuch: „Eine fortlaufende, selbstkritische Bestandsaufnahme hinsichtlich der sehr hoch gesetzten Ziele hat nicht ausreichend stattgefunden.“

Die oppositionelle AfD stand ohnehin der gesamten deutschen Beteiligung am Afghanistan-Einsatz ablehnend gegenüber. Naheliegend, daß die Fraktion dann auch von Beginn der parlamentarischen Aufarbeitung an die Aufteilung in eine Enquete-Kommission und einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß kritisierte. Denn dieses „schärfste Schwert der Opposition“, das Zeugen wie in einem Gerichtsprozeß befragen kann, untersucht ausschließlich den zum Fiasko geratenen Abzug der Deutschen aus Afghanistan im August 2021, nachdem die Taliban die Herrschaft über den größten Teil des Landes und vor allem die Hauptstadt Kabul zurückerobert hatten. 

Den gesamten Afghanistan-Krieg aufzuarbeiten, zu dem diese zwanzigjährige „Mission“ von 2001 bis 2021 zwischenzeitlich wurde, bleibt also der Enquete-Kommission überlassen. Dieses Gremium zieht Fachleute zu Fragerunden heran, arbeitet aber ausdrücklich konsensorientiert. Die Enquete ist auf das Wohlwollen der Ministerien und Behörden angewiesen und hat nicht das Recht, Akteneinsicht zu verlangen. Auch beim zeitlichen Aufwand liegen Welten zwischen den Gremien. Die Enquetekommission tagt einmal im Monat, der Untersuchungsausschuß jede Sitzungswoche. 

Den Antrag der AfD im Mai 2022, die Zuständigkeit des Untersuchungsausschusses für den gesamten Zeitraum der Präsenz am Hindukusch auszuweiten, lehnten die anderen Fraktionen ab. Wobei auch Parlamentarier, die durchaus Sympathien für dieses Ansinnen hatten, einen ganz praktischen Einwand geltend machen: Der Aufwand für eine solch umfangreiche Untersuchung wäre innerhalb einer einzigen Legislaturperiode nicht zu bewältigen gewesen. Bezeichnenderweise hatten sich vor der Bundestagswahl 2021 sowohl Grüne als auch FDP – als Oppositionsparteien – noch gegen eine Enquete-Kommission und für einen Untersuchungsausschuß ausgesprochen. Denn in ihm sitzen die Abgeordneten quasi zu Gericht; die Kommission erinnert eher an ein wissenschaftliches Seminar.

Sondervoten und Repliken auf Sondervoten gibt es immer dann, wenn der beabsichtigte Konsens nicht erreicht wurde. So liest sich der Zwischenbericht zuweilen wie eine verschriftliche Podiumsdiskussion. Etwa wenn sich die sachverständigen Professoren und Generäle außer Dienst uneins sind über die Frage, ob die „Operation Enduring Freedom“  tatsächlich „Haß und Gewalt schürte“ und dadurch die Mission der internationalen Stabilisierungstruppe erschwert habe.

Und die AfD-Vertreter im Gremium monieren in ihrem dem Zwischenbericht gleich vorangestellten Sondervotum, daß „die Frage, ob in Zukunft militärische Interventionen Deutschlands im Ausland und insbesondere in kulturfremden Räumen nach dem vernetzten Ansatz überhaupt erfolgversprechend sind, gar nicht erst gestellt“ wurde. Weiter schreiben die Abgeordneten Jan Nolte und Joachim Wundrak: „Das Narrativ, daß die Bundeswehr am Hindukusch Deutschland verteidige, traf zumindest seit Zerschlagung der Al-Qaida-Strukturen in Afghanistan nicht mehr zu.“ Die Taliban hätten lediglich „nationale, höchstens transnationale, sich auch auf Pakistan erstreckende Ziele“, sie seien keine „international agierende Terrororganisation, die man durch Bekämpfung in Afghanistan an Anschlägen in Deutschland hätte hindern müssen“. 

Es sei, so schlußfolgern die Politiker unter Verweis auf die Aussagen des früheren Außenministers Joschka Fischer (Grüne) und des ehemaligen Botschafters Michael Steiner, fast ausschließlich darum gegangen, „sich als verläßlicher Bündnispartner gegenüber den USA zu erweisen“.

Nicht jede Ortskraft war „prinzipiell gefährdet“

Kritik übt die AfD-Fraktion, abweichend von den übrigen im Bundestag vertretenen Parteien, auch an der Tatsache, daß die Enquete-Kommission bei der Bestandsaufnahme ein Thema ausgeklammert habe, das in eine Gesamtbilanz des zwanzigjährigen Einsatzes gehört hätte: das im Jahr 2013 eingeführte Ortskräfteverfahren, mit dem afghanische Mitarbeiter der Deutschen das Land verlassen konnten. Dies habe Afghanistan nicht nur dringend benötigte gut ausgebildete Fachkräfte entzogen.  Mit „der inhaltlichen Aufweichung sowie zeitlichen Ausweitung der Definition der ‘Ortskraft’ im Sommer 2021 und durch den Beginn des Bundesaufnahmeprogramms im Oktober 2022 mit 44.146 Aufnahmezusagen“ sei außerdem „der Migrationsdruck auf Deutschland weiter befördert“ worden. 

Freilich gehört die Frage der Behandlung von tatsächlichen oder angeblichen Ortskräften zu den lange nachwirkenden und umstrittenen Folgen des deutschen Engagements am Hindukusch. In den dramatischen Tagen von Mitte bis Ende August 2021 flog die Bundeswehr knapp 4.300 Afghanen aus; nur 231 von ihnen waren ehemalige Ortskräfte, zu denen 848 berechtigte Familienangehörige kamen. Mehr als 3.000 der ausgeflogenen Afghanen hatten demnach keinen Ortskräfte-Bezug zu Deutschland. Unter ihnen befanden sich sogar Kriminelle, die zuvor bereits aus Deutschland in ihr Heimatland abgeschoben worden waren.

Ein Offizier gab im Untersuchungsausschuß zu Protokoll, es belaste ihn immer noch, daß es der Bundeswehr im August 2021 nicht gelungen sei, mehr Ortskräfte auszufliegen, während man Tausende Afghanen ohne einen Bezug zu deutschen Institutionen hierher gebracht habe. Ohnehin wird beim Blick auf Dokumente oder Zeugenaussagen klar, daß es zwischen Ortskraft und Ortskraft erhebliche Unterschiede gab. Auch in Sachen potentieller Gefährdung kommt es auf den Einzelfall an. „Eine Ortskraft, die als Dolmetscher bei Spezialkräfteoperationen dabei war, ist natürlich gefährdet. Jemand, der bei uns als Schweißer oder Hausmeister unterwegs war, ist jetzt prinzipiell nicht gefährdet, weil der für die Taliban im Zweifel eine Informationsquelle war“, resümierte ein im Untersuchungsausschuß als Zeuge befragter Stabsoffizier seine Erfahrungen. Ein anderer berichtete von der Sorge, enttäuschte ehemalige Ortskräfte könnten die Bundeswehr angreifen oder Einrichtungen blockieren. 

Ein hochrangiger, für Afghanistan zuständiger Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes hatte im Juni 2021 per Mail an eine Kollegin geschrieben, es sei „uns bislang kein Fall bekannt (mindestens seit 2014/15), in dem eine (ehemalige) Ortskraft in nachvollziehbarer Verbindung zu ihrer Tätigkeit für deutsche Institutionen tatsächlichen Schaden erlitten hat“. Es bleibe „Spekulation“, dies hänge damit zusammen, daß man gefährdete afghanische Mitarbeiter „rechtzeitig“ nach Deutschland gebracht habe. Und, so betont der deutsche Diplomat, auch „in der Medienkampagne für eine umfangreichere Aufnahme wurde nach unserem Wissen kein konkreter Fall genannt“.

Bereits im Juni hatten die Taliban eine „Generalamnestie“ verkündet. Die habe nicht nur für afghanische Mitarbeiter westlicher Entwicklungshilfe-Organisationen gegolten, sondern sogar für jene Einheimischen, die für westliche Streitkräfte gearbeitet hätten. In mehreren Berichten von in Afghanistan stationierten Beamten des Bundesnachrichtendienstes (BND) aus jener Zeit hieß es, man schätze dies als glaubwürdig ein, die Taliban hätten ihre Zusagen – seit der Abzug der fremden Soldaten feststand – stets eingehalten. Aus den E-Mails und vertraulichen Dienstschreiben spricht vielmehr die – später von den Ereignissen bestätigte – Sorge vor Kriminellen, Marodeuren oder den Terroristen des (mit den Taliban verfeindeten) Islamischen Staats (IS), die das Machtvakuum zwischen dem Abzug der westlichen Verbündeten und dem Einmarsch der neuen Herrscher ausnutzen könnten. 

„Wir alle haben die Lage falsch eingeschätzt“, gaben nach dem August 2021 Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas (SPD) kleinlaut zu. An Warnungen hatte es nicht gefehlt, das belegen Lageberichte des BND, der seit 2013 regelmäßig auf die Erosion der Sicherheit in Afghanistan hingewiesen und früh eine Rückkehr der Taliban an die Macht prognostiziert hatte. Genutzt hat es nichts. Die Entscheidungsträger waren womöglich am Wahrnehmen dieser Warnungen gescheitert.