Wie sich die Zeiten ändern. Noch 2017, im Jahr der vorletzten Bundestagswahl, wollte die SPD von einem deutschen Verteidigungshaushalt in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nichts wissen. Ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz nannte das Ziel „falsch und unsinnig“. 2018, als Rußland die Krim schon längst annektiert hatte, warnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) vor „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“. Man solle, riet er, das Zwei-Prozent-Ziel nicht so wichtig nehmen.
Seit dem Angriff auf die Ukraine, der jetzt ins dritte Jahr geht, ist die Stimmung umgeschlagen. Deutschland hat die magische Grenze von zwei Prozent erreicht, die einstmals unverbesserlichen Pazifisten rasseln mit dem Säbel, selbst über eine nukleare Bewaffnung der EU oder sogar Deutschlands wird diskutiert. Befeuert wird die wieder erwachte Liebe zur Aufrüstung von der Angst, Trump könne im kommenden Januar in das Weiße Haus zurückkehren – auch wenn das keineswegs sicher ist. Neuerdings wird in Washington spekuliert, die Demokraten könnten im Sommer in letzter Minute den mental angeschlagenen Joe Biden durch einen anderen Kandidaten ersetzen.
Die Debatte wird zu einem Déjà-vu-Erlebnis. Nichts davon ist neu. Alles kam schon einmal aufs Tapet, vor einem halben Jahrhundert, in den fünfziger und sechziger Jahren. Schon damals kamen Zweifel auf, ob auf den atomaren Schutzschild der USA im Ernstfall Verlaß sei. Schon damals wurde über die europäische Bombe gesprochen. Mehr noch: es wurde darüber verhandelt, es gab erste Vereinbarungen.
Da die Bundesrepublik Deutschland immer noch weit davon entfernt ist, eine tiefere strategische Kultur zu entwickeln, lohnt sich der Rückblick. Bereits 1954 mußte die junge Bundesrepublik vertraglich auf eigene Nuklearwaffen verzichten, ein Souveränitätsmangel, der zuletzt 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag noch einmal festgeschrieben wurde, weil USA und Sowjetunion darauf bestanden. Ein Land, das sich unter einem fremden atomaren Schutzschirm eingerichtet hat, ohne sicher sein zu können, daß er unter allen Umständen zur Verfügung steht, muß als halbsouverän eingestuft werden.
Kein deutscher Politiker hat das so klar gesehen wie Franz Josef Strauß (CSU), von 1955 bis 1962 erst Bundesminister für Atomfragen und dann Verteidigungsminister. Zum einen verschaffte er sich mit dem Einstieg in die zivile Nutzung der Atomenergie die Chance auf eine deutsche Bombe. Zum anderen verhandelte er ab 1956 mit Frankreich über eine gemeinsame Atomrüstung. Auch Italien wurde einbezogen. Laut Michael Stürmer schlossen Bonn und Paris einen Vertrag über die Entwicklung nuklearer Waffen auf dem Gebiet der französischen Sahara. Das Projekt wurde abgebrochen, als General de Gaulle 1958 an die Macht kam.
Später, 1962, setzte Strauß auf die Multilateral Force, eine nukleare Streitmacht, die auf Schiffen und auf U-Booten stationiert und Teil der Nato sein sollte. Die Amerikaner waren dann doch nicht interessiert. Sie einigten sich1968 mit dem Kreml auf den Atomwaffensperrvertrag. Er trat 1970 in Kraft, wurde von der Bundesrepublik aber erst 1975 ratifiziert. Strauß hatte dagegen opponiert. Mit seiner Befürchtung, daß die Großmächte die Verpflichtung zur atomaren Abrüstung mißachten würden, hat er recht behalten.
Was übrigblieb, war die sogenannte nukleare Teilhabe. Dazu sind Maschinen der Luftwaffe in Büchel in der Eifel stationiert, deren Software von den Amerikanern freigeschaltet werden muß und die im Ernstfall auf US-Befehl in Richtung Rußland starten. Egon Bahr (SPD) nannte das ein „Märchen für nichtatomare Kinder“. Strategisch ist Büchel ziemlich wertlos, weil es sich als leichtes Ziel für einen Gegner anbietet. Es schreckt nicht ab. Wenn schon nukleare Teilhabe, dann wären die Waffen besser auf U-Booten stationiert und nicht auf dem schmalen Territorium der Bundesrepublik.
Das verdrängte deutsche Problem besteht darin, daß das strategische Arsenal der USA ausschließlich dem Schutz des eigenen Territoriums dient und daß allenfalls taktische Atomwaffen eingesetzt würden, und zwar auf europäischem Boden. So ist die Lage, seitdem die Vereinigten Staaten mit dem Sputnik-Schock von 1957 das Gefühl der Unverwundbarkeit verloren haben. Auch ein Donald Trump folgt dieser Logik. Ebenso wenig neu ist, daß der Nato-Vertrag keine automatische Beistandspflicht beinhaltet, auch wenn das immer wieder kolportiert wird.
Zurück also zur alten Idee einer europäischen Bombe. Im Februar 2020 bot der französische Präsident Emmanuel Macron den europäischen Partnern, „die dazu bereit sind“, einen strategischen Dialog an. Daß er die Kontrolle über seine 300 strategischen Atomwaffen teilen werde, sagte er nicht. Seit de Gaulle ist es korrekt, daß sich die Verfügung über Nuklearwaffen schlecht teilen läßt. War es deswegen richtig, daß die Bundesregierung auf Macrons Vorstoß nicht ernsthaft eingegangen ist? Nein.
Sie sollte ausloten, wie weit er zu gehen bereit ist. Denkt er nur an eine deutsche Mitfinanzierung der Force de frappe? Würde er einen gemeinsamen Einsatzbefehl kategorisch ausschließen? Schon General Pierre M. Gallois, Vordenker der französischen Atomrüstung, wies darauf hin, daß eine europäische Atomwaffe nur dann einen Sinn hätte, wenn die Europäer zumindest das Stadium einer Konföderation erreicht hätten. Berlin müßte den Franzosen zudem klarmachen, daß es eine Voraussetzung der Konföderation wäre, den französischen Sitz im UN-Sicherheitsrat auf diese zu übertragen. Eine Konstruktion auf EU-Ebene wäre im übrigen nicht praktikabel. Malta und Zypern etwa hätten nichts beizutragen, eine polnische Beteiligung verbietet sich, solange Warschau keinen Schlußstrich unter den Zweiten Weltkrieg zieht und seine Reparationsforderungen nicht endgültig ad acta legt.
Si vis pacem, para bellum. Der römische Satz wird mißverstanden, wenn die Betonung auf der Kriegsvorbereitung liegt. Die Chance auf einen Ausgleich mit Rußland und auf ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem wurde in den neunziger Jahren vertan. Mit dem Ukrainekrieg scheint sie für immer geschwunden. Sich in ein Feindverhältnis zu verbeißen, ist dennoch falsch und perspektivlos. Selbst in den schlimmsten Jahren des Kalten Krieges, als die kommunistische Ideologie auf die Weltherrschaft zielte, wurde verhandelt, nicht einmal ergebnislos. Die Deutschen sollten nicht die letzten, sondern die ersten sein, die sich im eigenen Interesse für den Frieden stark machen.