© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/24 / 16. Februar 2024

Zeitgeschichte nach eigener Façon
Die „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ widmen sich dem frühen Disput mit der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt
Stefan Scheil

Martin Broszat mußte passen. Man verfüge im Institut für Zeitgeschichte (IfZ) leider „nicht über genügend Versiertheit“, um die „dubiose polnische Zahlenangabe“ über die eigenen Opfer während des Zweiten Weltkriegs zu widerlegen. „Von welchen Voraussetzungen her sollten Sie es also können?“, schrieb der Direktor des IfZ im Mai 1978 an Alfred Schickel, den kommenden Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI). 

Schickel hatte sich zu jener Zeit bereits einen gewissen Namen mit Nachfragen in dieser Richtung gemacht und auch in anderen Bereichen der Zeitgeschichtsforschung auf Probleme hingewiesen, die von den öffentlich geförderten Forschungseinrichtungen der Bundesrepublik nicht gelöst oder gar nicht angegangen worden waren. Damit machte er sich in diesen Institutionen in den 1970er und 80er Jahren naturgemäß wenig Freunde. Er fand stattdessen Aufmerksamkeit als jemand, den es zu bekämpfen galt. 

Nun widmet das Institut für Zeitgeschichte aktuell in seinen hauseigenen Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte diesen alten Zeiten gepflegte fünfundsiebzig Seiten Aufarbeitung. Das Institut fragt sich darin selbst nach der Natur der Beziehung zwischen IfZ und ZFI und wie es sein konnte, daß der behördlich millionenschwer geförderte Zeitgeschichts-Vorzeigebetrieb in der Münchner Leonrodstraße phasenweise inhaltlich von einem kleinen, gemeinnützigen Verein wie der ZFI vor sich hergetrieben wurde.

Der Beitrag ist gewissermaßen eine Zeitreise in eine Ära, als der staatliche bundesdeutsche Geschichtsbetrieb mit Blick auf die Weltkriegsära noch nicht ganz so gleichförmig agierte wie aktuell. Die Autoren beschreiben dies als eine Zeit, bevor der „Holocaust als konstitutives Element in den Focus der deutschen Gesellschaft“ gerückt sei. Er ist zugleich selbst ein Zeitdokument dafür, wie sehr eben die behördlich geförderte Zeitgeschichte der Bundesrepublik in manchen Fragen zu jeder Zeit die angemessene Antwort verweigert hat und in diesem Zusammenhang sehr stark politisiert und milieugebunden agierte. Das halten die Autoren dieses umfangreichen Beitrags, Moritz Fischer und Thomas Schlemmer, offenbar auch weiterhin für die gegebene Norm.

So wird denn der entscheidende Abschnitt mit den Worten eingeleitet: Für Schickels Abstieg sorgten „Institutionen, Historiker und Archivare, die er angegriffen hatte, oder ins Zwielicht gesetzt hatte und die sich nun wehrten, offen und verdeckt“.  Aus der Schilderung dieser verdeckten Operation heraus erfährt der Leser dann so manches darüber, wie in der Bundesrepublik die sogenannte ‚„Zeitgeschichte“ gemacht wurde und wird, und wer dabei mitspielen soll oder darf und wer nicht.

Von seiten des IfZ wurde gegen Schickel bei der „FAZ“ intrigiert

Alfred Schickel wird allen Ernstes angekreidet, er habe im Umgang mit der seinerzeitigen Institutsleitung unter Helmut Krausnick und Broszat „wie selbstverständlich auf Augenhöhe mit seinem Gegenüber“ agiert. Den ganzen Beitrag hindurch zieht sich das Bemühen, diese Augenhöhe auf subtile Weise abzustreiten und ihr Fehlen dann als Begründung dafür heranzuziehen, Schickel aus seinen damals bestehenden Publikationsmöglichkeiten herauszumanövrieren. Die gab es seinerzeit in lokalen Blättern wie dem Donaukurier, dem Bayernkurier, im Rheinischen Merkur und überregional vor allem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auch die Entscheidung des Verlegers Herbert Fleissner, beim Ullstein-Verlag den Platz für eine von Alfred Schickel redigierte Buchreihe frei zu machen, wurde im Institut für Zeitgeschichte „mit besorgter Aufmerksamkeit registriert“, erfährt man.

Über die exakte Zusammensetzung seiner Gegner dürfte sich Schickel kaum im klaren gewesen sein. „Den Uneingeweihten, zu denen auch Schickel gehörte, blieb dieses Geflecht aus kollegialen Kontakten und freundschaftlichen Verbindungen verborgen“ heißt es dazu in den Vierteljahrsheften spöttisch. Das Bundesarchiv, das einen Sitz im wissenschaftlichen Beirat des IfZ hat, griff mehrfach ein. Man informierte die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen „unter der Hand“ darüber, daß man Schickel dort nicht mehr gedruckt sehen wolle. Zur Unterstützung dieser Attacke griff dann auch kein Geringerer als der Kölner Professor Andreas Hillgruber zur Feder. Er schrieb einen „deutlichen Brief“ an Joachim Fest als einen der Herausgeber der FAZ. Daraufhin erfolgte Ende 1982 ein förmlicher Beschluß des Herausgebergremiums, Schickel in keinem Teil der FAZ mehr drucken zu lassen.

Dieser Vorgang fiel in die Gründungsphase der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt, deren anfänglicher Aufbau, finanzielle Verhältnisse, Mitgliederzuwachs, personelle Zusammensetzung und Tätigkeit von den Vierteljahrsheften recht interessant beschrieben werden. Trotz aller Bekämpfung von Alfred Schickel und Hellmut Diwald, jener beiden zentralen Akteure von angeblich „zweifelhaftem Ruf“, so das IfZ, schrieb die ZFI in den ersten Jahren eine Erfolgsgeschichte, die sozusagen weiterhin eine Auseinandersetzung unvermeidlich machte.

Einen bedeutenden Bruch in dieser Erfolgsgeschichte sehen die IfZ-Autoren dann im „Historikerstreit“ Mitte der achtziger Jahre. Der veränderte in der Tat das gesellschaftliche Klima und die innerhalb der Zeitgeschichtsforschung herrschenden Seilschaften noch einmal deutlich in Richtung linksgerichteter Grundströmung und Holocaust-Zentrierung. Selbst ein in dieser Hinsicht williger Historiker wie eben Andreas Hillgruber mußte plötzlich erleben, im Historikerstreit mit einer Vernichtungskampagne überzogen und in linken Leitmedien wie dem Spiegel als „konstitutioneller Nazi“ angegangen zu werden. Auch Klaus Hildebrand, Michael Stürmer und allen voran Ernst Nolte sollten aus dem ausgegrenzt werden, was zukünftig als geschichtswissenschaftlicher Diskurs zu gelten habe. Das gelang in beachtlichem Umfang. 

Die IfZ-Autoren feiern diesen politisch motivierten Vorgang ebenso selbstverständlich wie grotesk als den Moment, in dem „die zeithistorische Forschung erfolgreich auf ihre öffentliche Deutungs- und Sinngebungskompetenz“ gepocht habe. Das sei auf Kosten von meinungsstarken Vertretern der Erlebnisgeneration, von Medienvertretern oder von „Gesinnungshistorikern“ wie Alfred Schickel geschehen und der Anlaß für einen Schlußstrich gewesen, den man beim IfZ unter das Kapitel ZFI gezogen hätte.

Eine vollständige Aufarbeitung der polnischen Opferzahlen gibt es vom IfZ übrigens bis heute nicht. Über das Zustandekommen der in Polen offiziell genannten Zahl von drei Millionen aus einem simplen Beschluß des Warschauer Politbüros im Jahr 1947, wonach nicht weniger ethnische Polen als polnische Juden umgekommen sein dürften, muß man sich anderswo informieren.