© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/24 / 16. Februar 2024

Wider den deutschen Masochismus
Nachruf: Der deutsch-französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser starb am 7. Februar 2024 mit 99 Jahren
Konrad Löw

Alfred Grosser wurde am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren. Seine Eltern kamen schon kurz nach Hitlers Machtantritt zu der Erkenntnis, daß sie als Juden in Deutschland keine gute Zukunft zu erwarten hätten und verließen mit ihren Kindern die alte Heimat und begaben sich nach Frankreich. Dort wirkte Sohn Alfred lange Jahre als Professor für Politikwissenschaft, Schwerpunkt Deutschland. So überrascht es nicht, daß er häufig zu Vorträgen und Diskussionen hierher eingeladen wurde, dreimal sogar vom Deutschen Bundestag: 1974 zum Volkstrauertag, 1999 zum Umzug des Parlaments nach Berlin und am 3. Juli 2014 zum Thema: „100 Jahre Erster Weltkrieg“. 

Anläßlich seines Todes soll an sein Hauptanliegen erinnert werden: seinen unermüdlichen Kampf gegen die Kollektivschuldlüge. Ihr hat er ein ganzes Buch gewidmet, soweit ersichtlich sein letztes, gleichsam sein Vermächtnis: „Le Mensch: Die Ethik der Identitäten“. Darin wehrt er sich „gegen ein altes Grundübel, das aktueller ist denn je – den Finger, der auf andere zeigt … das ‘schlimme DIE’: DIE Muslime, DIE Frauen, DIE Juden, DIE Deutschen“, wie es auf dem Buchrücken heißt. Sein Anliegen ist gleichzeitig eine Herausforderung, der wir uns aus Dankbarkeit und intellektueller Redlichkeit stellen sollten. Auch weltoffene Vaterlandsliebe lädt dazu ein. Dieser Nachruf will ein angemessener Versuch sein. 

Im Beisein von Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der ehemaligen Staatsoberhäupter Richard von Weizsäcker und Valéry Giscard d’Estaing spricht der Gast am 3. Juli 2014 schon in einem der ersten Absätze vom „deutschen Masochismus“. Er schildert, wie er noch während des Zweiten Weltkriegs zu der festen Überzeugung kam, „daß es keine Kollektivschuld gibt, so zahlreich auch die Mörder und so schrecklich auch die Verbrechen“. „Und weil manche Franzosen sofort eingesehen haben, daß es DIE Deutschen nicht gab, konnten zunächst deutsch-französische Verbindungen auf Gesellschaftsebene hergestellt werden. Die versöhnliche Entwicklung in Europa „konnte aber nur geschehen, weil es nicht mehr DIE Deutschen gab, so wie es noch 1918 in den Augen der Siegermächte der Fall war.“ „DIE Deutschen gibt es auch heute  nicht“ ist sein Vermächtnis, niedergelegt auch im letzten Absatz seiner Ansprache, für die sich der Deutsche Bundestag mit Applaus bedankte. Wie üblich wurden Grossers Kernaussagen von den Abgeordneten und ihren Fraktionen nicht erörtert, nicht von der Presse aufgegriffen. Warum? Ist seine Botschaft nicht willkommen? Ist „deutscher Masochismus“ eine Reizvokabel? 

In der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2021 bekannte die Hauptrednerin, Charlotte Knobloch, die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland und amtierende Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München: „Ich stehe als stolze Deutsche vor Ihnen.“ Soweit ersichtlich, hat niemand an diesem Bekenntnis Anstoß genommen. Im Gegenteil: Der Beifall nach ihren Ausführungen war anhaltend. Die Annahme ist naheliegend, daß sich damit die Angehörigen des Deutschen Bundestages ihr Bekenntnis zu eigen gemacht haben: „Ich stehe als stolze Deutsche vor Ihnen.“ Aber: Ist dem wirklich so? 

Als sich der oberste Repräsentant des deutschen Volkes, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, im Januar 2020 in Israel aufhielt, berichtete die Presse, er habe nicht deutsch gesprochen: „Steinmeier wolle den Zuhörern nicht Deutsch, die ‘Sprache der Täter’ zumuten.“ Sein Vorgänger im Amt, Johannes Rau, war nicht minder rücksichtsvoll: „Ich weiß, was es für manchen von Ihnen bedeutet, in diesem Hohen Hause [Knesset] heute die deutsche Sprache zu hören.“ Demnach besteht offenbar die Mehrheit der Deutschsprechenden nach wie vor aus Tätern, mit ererbter, vererblicher Schuld beladen. Das amtliche Organ des Deutschen Bundestages Das Parlament titelte am 2. Mai 2023 mit ganz großen Lettern „Im Land der Täter“. Die amtliche Bundeszentrale für politische Bildung förderte nach Kräften den Vertrieb eines Buches, das ewige Kollektivschuld der Deutschen unmißverständlich bejaht und das den deutschen Jugendlichen den Rat gibt, bei einem Grenzübertritt ihr Deutschsein zu verleugnen und zu sagen: „Sag doch einfach, du kommst aus Holland.“ Der Bundestag hat maßgeblichen Einfluß auf das genannte Bildungswerk und bewilligt ihm Jahr für Jahr an die einhundert Millionen Euro. 

Wenn es richtig ist, wie Grosser annimmt, daß das Kollektivurteil über DIE Deutschen seitens der Sieger von 1918 dazu beigetragen hat,  Hitler den Weg an die Macht zu ebnen, muß dann heute ihre Ablehnung nicht Gemeingut aller billig und gerecht Denkenden sein, ein Bekenntnis, das laut und unmißverständlich ausgesprochen wird? Doch der Deutsche Bundestag arbeitet an der Realisierung des Vorschlags, ein „Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ zu errichten. Die Unterrichtung des Bundestages seitens der Bundesregierung am 10. Mai 2022 über das Projekt, über die ersten Schritte und die weitere Planung beginnt mit den Worten: „Der Zweite Weltkrieg und die Verbrechen der Deutschen prägen Europa bis heute.“

So geht es weiter im Text: „die Deutschen“, „die Deutschen“, ohne auch nur einmal den anstößigen, beängstigenden Sprachgebrauch zu problematisieren, beispielsweise daß die Opfer der überführten Täter auch fast ausschließlich  Kollektiven angehörten und als solche bekämpft wurden! Hitler hat am Ende seiner Tage dem deutschen Volk den Untergang gegönnt, da es sich doch als das schwächere erwiesen habe. 

Die Anklage des Bundestages steht unter der Überschrift „Wissen und Verantwortung“, und eine „produktive“ Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gilt ausdrücklich als Selbstverständlichkeit. Widerspricht nicht das bereits Zitierte dieser Absichtserklärung, wenn Grossers Anliegen stillschweigend übergangen, ja geradezu lauthals totgeschwiegen wird?






Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Ihn verband eine jahrelange Freundschaft mit Alfred Grosser.