Die Befreiungskriege begannen nicht erst 1813 oder mit der berühmten Konvention von Tauroggen vom 30. Dezember 1812. Bereits der Tiroler Aufstand von 1809 oder schon der 1808 ausgebrochene spanischen Volksaufstand gegen Napoleon kann als Ausgangspunkt für die Erhebung der unterdrückten Völker Europas gegen den französischen Imperator angesehen werden.
Deutschland – also Österreich und Preußen sowie das im Rheinbund zusammengefaßte „Dritte Deutschland“ – erlebte im Jahre 1809 ein erstes Aufbäumen gegen die napoleonische Fremdherrschaft: den kühnen Versuch des preußischen Reiterführers Ferdinand von Schill, mit seinen Truppen auf eigene Faust den übermächtigen Napoleon zu bekriegen und einen Volksaufstand gegen seine landfremde Tyrannei zu entfesseln.
Seit seinem bejubelten Einzug in Berlin im Dezember 1808 war Ferdinand von Schill Liebling des Volkes und stand für die Hoffnung vieler Menschen auf Befreiung. In dankbarer Erinnerung an seine Verdienste um die Verteidigung der Festung Kolberg 1806/07 hielt Königin Luise ihre schützende Hand über ihn. Wie einen Talisman führte Schill einen Brief von Gneisenau mit sich, in dem dieser versprach: „Meine treue Mitwirkung für Ihre Pläne sage ich Ihnen von Herzen zu.“
Am 22. April erfuhr Schill, daß ein von ihm an Oberst von Dörnberg im Königreich Westphalen abgeschickter Bote mit konspirativen Briefen den Franzosen in die Hände gefallen war. Nunmehr fand Schill sich zum Handeln gezwungen. In den frühen Morgenstunden des 28. April 1809 führte er sein Husarenregiment aus Berlin fort – angeblich zum Exerzieren. Auf der Straße nach Potsdam ließ er es Halt machen und rief ihm zu, es gehe nun gegen Napoleon. Das Regiment reagierte mit Hurra.
Hinter Schill standen preußische Reformer: Freiherr vom Stein, Scharnhorst und der erwähnte Gneisenau. Längst hatten sie ein Netz der Verschwörung gewoben und den braven Major ermuntert, im Königreich Westphalen, wo seit 1807 Napoleons jüngster Bruder Jérome als „König Lustig“ amtierte und die Bedingungen günstig schienen, eine Erhebung zu entfesseln.
Schill marschierte mit 500 Mann über Wittenberg und Dessau nach Bernburg, wo ihn von allen Seiten Hiobsbotschaften erreichten: vom Scheitern des preußischen Leutnants von Katte in Magdeburg und Dörnbergs in Kassel sowie von den Siegen Napoleons gegen Erzherzog Karl von Österreich. Noch hätte Schill zurückkehren können, aber er beschloß die Fortsetzung seines Marsches in Richtung Magdeburg. Es folgten Gefechte, in denen sich Schills Soldaten gegen napoleonische Truppen tapfer schlugen. In der Zwischenzeit hatte König Friedrich Wilhelm III. Schills Handeln auf das Schärfste verurteilt und eine Untersuchungskommission eingesetzt. Der geächtete Schill beschloß, seinen Marsch nach Norden fortzusetzen.
In der DDR wurde Schill mehr geehrt als in der Bundesrepublik
Der Tiroler Volksaufstand zeitigte immer größere Erfolge, und am 22. Mai 1809 in der Schlacht bei Aspern wurde Napoleon zum ersten Mal in offener Feldschlacht persönlich geschlagen. Schill setzte seinen Zug zur mecklenburgischen Küste fort – in der Hoffnung, dort Hilfe von englischen Schiffen zu bekommen oder sich auf sie retten zu können. Von holländischen und dänischen Truppen im Dienste Napoleons bedrängt, warf Schill sich in die Hauptstadt Schwedisch-Vorpommerns, die Festung Stralsund. Dort suchte er in Eile, die verfallenen Festungswerke wiederherzustellen. Er wurde aber im Straßenkampf gegen die rasch nachdrängenden Gegner getötet, wobei diese seiner Leiche den Kopf abschnitten. Teile von Schills Schar entkamen, der Rest geriet in Gefangenschaft und wurde nach Frankreich auf die Galeeren gebracht. Elf Offiziere erschossen die Franzosen standrechtlich in Wesel am 16. September 1809.
Ferdinand von Schill und seine Männer verkörperten tragische Helden, die in dem Konflikt zwischen Freiheitswillen und Rechtsgehorsam scheiterten. Aber sie waren Vorkämpfer für die notwendige Lösung dieses Widerspruches, die kommen sollte: 1812 unterzeichnete General Yorck von Wartenburg, ein zweiter Rebell in preußischer Uniform, die berühmte Konvention von Tauroggen. Ein ganzes Armeekorps versagte Napoleon die Gefolgschaft und machte den Weg für den nationalen Befreiungskrieg frei.
Das tragische Ende Schills tat seiner Volkstümlichkeit keinen Abbruch. Zwar ging Preußens König Friedrich Wilhelm III. in seiner Angst vor dem Zorn des übermächtigen Napoleon auf Distanz zu dem Mann, der für ihn sein Leben in die Bresche geworfen hatte; doch Königin Luise, die offen Sympathie für Schill und seine Sache zeigte, soll bei der Kunde vom Schicksal ihres Helden in Tränen ausgebrochen sein.
Von den Befreiungskriegen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte Deutschland eine erste Blüte der Legende. Die tragische Geschichte vom mutigen Major berührte die in den Befreiungskriegen erwachte Nation. Männer des Wortes wie Friedrich de la Motte-Fouqué, Achim von Arnim, Max von Schenkendorf, Friedrich Rückert, Theodor Fontane oder der vaterländische Propagandist Ernst Moritz Arndt widmeten sich dem romantischen Helden Ferdinand von Schill, der den Mut zum Unbedingten hatte und ohne Rücksicht auf Gefahr für seine Idee kämpfte.
Im Kaiserreich nach 1871 behielt Ferdinand von Schill seinen Platz im Mythenfundus der Deutschen. In der Weimarer Republik wurde seine radikale Opferbereitschaft für das eigene Vaterland zum Leitmotiv national gesinnter junger Deutscher in Bündischer Jugend, völkischen Gruppen und Freikorps. So rief 1923 der Freikorpsführer Gerhard Roßbach die „Schilljugend“ ins Leben, die zeitweise von dem späteren SA-Führer Edmund Heines (1934 im Zuge des „Röhm-Putsches“ ermordet) geleitet wurde. 1927 bildete sich mit der „Freischar Schill“ eine Dissidentengruppe, deren Schirmherr Ernst Jünger war. Sie verfolgte eher einen Kurs des Nationalbolschewismus und wurde 1933 nach der Machtübernahme Hitlers verboten. Dennoch zählte auch während der NS-Herrschaft Schill zu den Leitfiguren, die in Publizistik und Bildungswesen vermittelt wurden. Auch die Verschwörer des 20. Juli 1944 beriefen sich bei ihrer „Gewissensentscheidung zum Ungehorsam“ auf den Major von Schill, der ohne Befehl seines Königs gegen Napoleon in den Krieg gezogen war.
Anders als in der Bundesrepublik erlebte Major von Schill in der DDR eine bemerkenswerte Wiedergeburt. Der „Arbeiter- und Bauernstaat“ ordnete ihn neben den preußischen Staats- und Militärreformern den fortschrittlichen Kräften der deutschen Historie zu: Schills Auszug ohne königliche Order wertete er als „emanzipatorische Tat“. Die DDR gab 1953 eine Briefmarke und 1976 – zu Schills 200. Geburtstag – eine Gedenkmünze heraus. Auch in der Nationalen Volksarmee wurde das Erbe Schills hochgehalten, ebenso im Schulunterricht. Die Bundesrepublik jedoch hat es nicht geschafft, zum 200. Jubiläum der Befreiungskriege auch nur eine Briefmarke herauszubringen oder gar eine staatliche Gedenkveranstaltung zu organisieren.