Keine Frage, die Aufmärsche der „Lemminge gegen Rechts“, Anfang Januar ausgelöst durch einen Presseartikel des staatsfinanzierten Medienhauses „Correctiv“ zu „Deportationen von Millionen deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund“, über die AfD- und CDU-Politiker angeblich auf einem Potsdamer „Geheimtreffen“ konferierten, boten großes propagandistisches Kino. Die Regie der rituellen „Haßwochen“, wie man sie aus George Orwells „1984“ kennt, hätte nicht perfekter kopiert werden können.
Um einen solchen Coup zu landen und bundesweit Heerscharen gegen das Gespenst einer „rechten Verschwörung“ hinter die Fichte zu führen, braucht es allerdings Legionen politisch unreifer Bürger. In der Berliner Republik, Jahrzehnte nach dem gescheiterten linken Projekt der „Erziehung zur Mündigkeit“ (Theodor W. Adorno), herrscht daran kein Mangel. Solche desorientierten und aufgeputschten Deutschen, die ihm derzeit „wirklich Angst einjagen“, sind für Eric Gujer, den Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, keine Eintagsfliegen. Er sieht sie vielmehr von älteren, in Generationen geformten Mentalitäten geprägt, deren Ursprünge in der Goethezeit zu suchen sind (NZZ online vom 2. Februar 2024): „Die Deutschen kommen eben von Idealismus und Romantik nicht los.“
Darum neigt ihre allzu oft Maß und Mitte verfehlende Kollektivpsyche zur Wirklichkeitsflucht: Immer kopflos hinein ins Nirwana roter, brauner oder grüner Utopien à la klassenlose Gesellschaft, Lebensraum im Osten, klimaneutrales Regenbogen-Paradies. Seit dem 19. Jahrhundert, so schaut Gujer mit Sorge auf diesen mit dem gesunden Menschenverstand fremdelnden Patienten, irritierten die Deutschen das Ausland mit ihrer „dunklen Gefühligkeit, die sich urplötzlich in Stimmungsgewittern entlädt“.
Während solcher Fieberschübe könnten Vorschläge zur Bewältigung politischer Probleme ihnen gar nicht radikal genug sein. Wovon augenblicklich Forderungen künden, die AfD zu verbieten oder deren Funktionären Grundrechte zu entziehen. „Warum nicht gleich Schutzhaft für das AfD-Präsidium?“ fragt Gujer. Dabei gerate in Vergessenheit, daß „wenig in der deutschen Geschichte so verhängnisvoll war wie der ewige Wunsch, Probleme ‘grundsätzlich’ zu lösen“. In der Politik jedenfalls ließen sie sich meist nur um den Preis des Totalitären final regeln.
Reflexionen über den deutschen Nationalcharakter
Eric Gujer knüpft mit dieser Diagnose an eine lange Tradition ideologiekritischer, sozialpsychologischer und völkertypologischer Reflexionen über den deutschen Nationalcharakter an. Die sich mit Titeln wie „Die Zerstörung der Vernunft“ (1955), einem Opus des Stalinisten Georg Lukács, das den „Weg des Irrationalismus“ vom romantischen Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling bis zu Adolf Hitler verfolgt, oder „Die Furcht vor der Freiheit“ (1945) des Psychoanalytikers Erich Fromm, das den Deutschen einen „autoritären Charakter“ attestiert, zu geflügelten Worten verdichteten. Ebenso wie „Les Incertitudes allemandes“ (1931), die „deutschen Ungewißheiten“, ein Bestseller, den der französische Kulturpolitiker Pierre Viénot schrieb, als die Weimarer Republik in Agonie verfiel und die Wähler der NSDAP zuströmten. Diesen jähen Stimmungswechsel zu Lasten des bürgerlich-sozialdemokratischen Parteiensystems leitete der Autor aus dem von jeher schwindsüchtigen Vernunftglauben seines Nachbarvolkes ab.
Von Viénot und Fromm inspiriert, versuchte auch der Oxforder Altphilologe Eric Robertson Dodds, der im Zweiten Weltkrieg in der Forschungsabteilung des Foreign Office an einem für die britische Besatzungsverwaltung konzipierten, die Umerziehung der Besiegten von 1945 anleitenden „Handbuch des Deutschlandwissens“ mitwirkte, den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch als schauerliches Resultat eines irrationalen, typisch deutschen „Auszugs aus der entzauberten Welt“ (Norbert Bolz) zu begreifen.
Analogien zu den antiken Griechen und deren gebrochenem Verhältnis zum Rationalen drängten sich für den Gräzisten Dodds unabweislich auf. Denn die Griechen, denen sich der deutsche Bildungsbürger seit Winckelmann, Humboldt und Hölderlin so „wesensverwandt“ fühlte, gönnten sich nur ein längeres Zeitalter der Vernunft. Im Übergang vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr., als ihre führenden Philosophen wissenschaftlich dachten und ihre Politiker relativ rational handelten. Davor und danach seien sie vom astrologischen Okkultismus und der religiösen Neurose ihres Götterglaubens nicht losgekommen („The Greeks and the Irrational“, 1951).
Für philosophische Tauchgänge, die in deutschen Seelentiefen nach Rohstoffen suchen für die ideenhistorische Konstruktion – je nachdem, wie der Wind des Zeitgeistes weht – segensreicher oder unheilvoller Kontinuitäten, ist die Epoche der Romantik immer ein besonders ergiebiges Schürffeld gewesen. Wie ergiebig, dürfte sich 2024 in der feuilletonistischen Begleitmusik zum 250. Geburtstag Caspar David Friedrichs, des Titanen romantischer Landschaftskunst, einmal mehr erweisen. Und es hat sich 2023 bereits eindrucksvoll gezeigt – auf dem öffentlich weitaus weniger beachteten Terrain der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Anlaß war das 100. Gründungsjubiläum der Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, bis heute eines ihrer wichtigsten Fachorgane.
Die Redaktion würdigt das Ereignis mit einer Serie von Aufsätzen, deren Schwerpunkt in der Romantik-Rezeption der Weimarer Zeit liegt, die maßgeblich von der Vierteljahrsschrift, ihrem Mit-Herausgeber, dem Novalis-Editor und -Exegeten Paul Kluckhohn sowie zahlreichen Beiträgern gesteuert wurden, die sich aus der ersten Garnitur germanistischer Romantik-Experten rekrutierten (Jahrgang 97/2023, Heft 4).
Die Romantik-Renaissance fand nicht im Elfenbeinturm statt
Das Unternehmen, obwohl auf dem Höhepunkt der Hyperinflation gestartet, stand unter ideell günstigen Voraussetzungen. Im Fach drängten die Jüngeren schon vor dem Ersten Weltkrieg auf einen Paradigmenwechsel, fort von der positivistischen Fliegenbeinzählerei und philologischen Miszellenwirtschaft, hin zur Vermittlung von Dichtung als Medium praxistauglicher Lebensdeutung und nationaler Selbstverständigung. Die Nachfrage danach war im Deutschen Reich durch den eskalierenden „Absolutheitsverlust“ (Hermann Broch) infolge Kriegsniederlage, Revolution, wirtschaftlicher Depression und dem Zerfall überkommener Wertordnungen rasant gestiegen.
Der Rückgriff auf die Romantik, verstanden als geistesgeschichtliche, den Sturm und Drang und die Weimarer Klassik integrierende Einheit der „Deutschen Bewegung“ zwischen 1770 und 1830, bot sich an, weil keine andere literaturhistorische Epoche sich besser eignete, um im Krisendiskurs der Moderne ein deutsches „Sonder- und Selbstbewußtsein“ für ein „metaphysisches Volk“ zu kreieren. Und dieses im Ideengut der Romantik in hoher Dosis konzentrierte „deutsche Wesen“ einerseits nach außen gegen die vom „rechnerischen Wertempfinden“ diktierten, primär materialistischen, den „Abbau des Menschlichen“ (Konrad Lorenz) fördernden Lebensideale der westeuropäischen Aufklärung abzugrenzen. Und andererseits nach innen „unserem Volk in seiner nationalen Not das Bewußtsein der Einheit seines höheren Lebens“ zu stiften, ihm „einen festen Boden geistigen Lebens zu schaffen, auf dem wir uns alle zu Hause wissen“ (Herman Nohl, 1911).
Wie vor allem Ludwig Stockingers und Daniela Gretz’ Studien zu Kluckhohns Romantikdeutung und dessen „polyvalenter“ Auffassung der „Deutschen Bewegung“ herausarbeiten, hielt sich die sonst gern akzentuierte „Wegbereitung“ für die „völkische“ Romantik-Rezeption ab 1933 jedoch eher in Grenzen, weil in den zwanziger Jahren noch viel vom kosmopolitischen und christlichen Erbe der Romantik erhalten blieb.
Die geistesgeschichtliche Romantik-Renaissance fand nicht im akademischen Elfenbeinturm statt. Die germanistischen Seminare durchliefen Abertausende künftiger Deutschlehrer, die noch bis in die frühen 1960er dieses Identitätsangebot verinnerlichten, um es im Unterricht an Generationen von Schülern weiterzugeben. Zu prüfen wäre die Frage, ob sie damit ihren Teil dazu beitrugen, daß sich auch die Deutschen des 21. Jahrhunderts als politische Romantiker aufführen können.
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