© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/24 / 16. Februar 2024

Der amerikanische Jedermann
Literatur: Mit dem Roman „Valentinstag“ vollendet Richard Ford seine Frank-Bascombe-Saga. An diesem Donnerstag wird er achtzig
Ludwig Witzani

Frank Bascombe ist ein Mittdreißiger, der die einfachen Dinge des Lebens liebt: ein Jägersteak, ein Salatbuffet und eine Fernsehübertragung. Als Sportreporter reist er durch Amerika, interviewt Baseball- und Eishockeygrößen, hat eine schöne Frau und wohnt in einem großen Haus. Allerdings hat er auch schon einiges verloren: einen Sohn, eine Liebe, seine literarische Ambition, lauter Verluste, denen er durch eine Flucht in die Durchschnittlichkeit zu entkommen versucht. Um ihn herum existieren Männer und Frauen in der gleichen Lage wie er  und rennen wie die Hamster in einem amerikanischen Hamsterrad ihren Hoffnungen hinterher.   

 Ausgestattet mit diesem biographischen Starter-Kit schickte der amerikanische Schriftsteller Richard Ford seinen Protagonisten Frank Bascombe 1986 in „The Sportswriter“ (dt. „Der Sportreporter“) auf eine lebenslange Reise. Schon neun Jahre später kehrte Frank Bascombe in dem Roman „Independence Day“(1995, dt. „Unabhängigkeitstag“) auf die literarische Bühne zurück. Inzwischen war der Protagonist Mitte Vierzig geworden, seine Frau Ann hat ihn mit den beiden gemeinsamen Kindern verlassen, und Frank arbeitet als Immobilienmakler in Haddam/New Jersey. Konsequent aus der Innenperspektive seines Protagonisten erzählt, präsentierte Ford in diesem Buch eine Bestandsaufnahme der amerikanischen Gesellschaft, inklusive der Deformationen, mit denen diese Gesellschaft ihre Mitglieder überzieht. Ausgezeichnet mit dem PEN/Faulkner Award und dem Pulitzer-Preis, wurde Richard Ford spätestens mit diesem Buch zu einem der führenden Romanciers seiner Generation.

Eine letzte Reise mit dem unheilbar erkrankten Sohn

Doch Leben und Literatur gingen weiter – und zwar im Gleichschritt. 2006 erschien „The Lay of the Land“ (dt.: Die Lage des Landes“), der dritte Roman der Bascombe-Reihe. Nach der „Existenz-phase“, die das Thema von „Unabhängigkeitstag“ gewesen ist, hatte Bascombe als Mittfünfziger nun die „Permanenzphase“ erreicht, jene Phase, in der man sich selbst ins Gesicht sehen und sich ein-gestehen muß: Das war es! Es kommt nichts mehr. Ich bin genau der, der ich geworden bin. Mit einer Sprachmacht sondergleichen und der Fähigkeit, Situationsbeschreibung und Reflexionen zu einer erstaunlich gehaltvollen und zugleich unterhaltsamen Mixtur zu verbinden, wurde Richard Ford mit „Die Lage des Landes“ zum Chronisten Amerikas.  

2014 veröffentlichte Ford eine Sammlung mit vier Novellen, die einige Streiflichter auf Frank Bascombe als Mittsechziger werfen, ohne allerdings die Breite und Geschlossenheit der ersten drei Bücher  anzustreben. Das war’s, glaubten viele Beobachter. Die Latte lag hoch, und nicht immer gelang den Altmeistern ein spätes Werk mit der gleichen Bravour wie in früheren Jahren. 

Doch sie sollten sich täuschen. Kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag legte Richard Ford mit „Be Mine“ den vierten und voraussichtlich letzten Roman seiner Bascombe-Reihe vor. Er trägt in der deutschen Übersetzung den Titel „Valentinstag“ und konfrontiert den mittlerweile 74 Jahre alten Frank Bascombe in der gewohnten epischen Manier mit den Grundfragen seines Alters: mit der Frage nach dem Glück und dem Tod. Und der Einsamkeit, könnte man hinzufügen, denn Frank Bascombe lebt nun ganz alleine. Seine erste Frau Ann ist inzwischen an Krebs gestorben, seine zweite Frau Sally hat ihn verlassen, um in der dritten Welt Gutes zu tun. Zu seinen Kindern pflegt er ein kursorisches und nicht besonders gutes Verhältnis. „Die Liebe ist vorbei“, räsoniert er, „und auch das Reisen kommt nicht wirklich in Frage.“ Was also soll er machen, um der verbleibenden Lebenszeit über das bloße Verstreichen hinaus einen Sinn zu geben? 

Da erfährt er von seiner Tochter Clarissa, daß sein Sohn Paul (47) an ALS erkrankt ist, einer unheilbaren, degenerativen Nervenerkrankung, die zwangsläufig zum Tod führt. Sofort verändert sich sein Leben. Um seinen Sohn von dem bevorstehenden Siechtum abzulenken, unternimmt er mit ihm eine letzte Reise durch Minnesota und South Dakota zu den Präsidentenköpfen von Mount Rushmore.

Diese Fahrt mit dem alten Camperhome „Warmer Wind“ findet in der zeitlichen Nachbarschaft des Valentinstags statt und führt Vater und Sohn nicht nur durch eine Welt aus Eis und Frost, sondern auch durch Kasinos, Krankenhäuser und Hotels, in denen der Valentinstagtrubel tobt. Das ganze Personal der hyperkommerzialisierten amerikanischen Mittelklassenkultur zieht in der literarischen Naheinstellung an dem Leser vorüber, diesmal aber vor dem Hintergrund der Todesthematik noch schärfer und bitterer ausgeleuchtet. 

Derweil läßt der leidende und schon erheblich gehandicapte Paul seine Ängste in pausenlosen Gereiztheiten am Vater aus. Frank Bascombe, der die meiste Zeit seines Lebens seinen Sohn durchaus kritisch sah, aber mobilisiert ungeahnte Energien der Fürsorge und Vaterliebe. Daß er dabei das Gefängnis seiner Selbstbezogenheit überschreitet und seinem leeren Leben einen Sinn verleiht, würde Ford niemals explizit formulieren, steht aber wie ein Elefant im Raum. 

Als Vater und Sohn endlich den überfüllten Parkplatz am Mount Rushmore erreichen und die vier Präsidentenköpfe besichtigen, kommt es zu einem kurzen Moment des Einverständnisses, der Frank und Paul glücklich macht. „Es ist komplett sinnlos und lächerlich, und es ist super“, jubelt der Kranke Sohn, ohne sich darüber bewußt zu sein, daß er mit diesem Spontansatz die Paradoxie der menschlichen Existenz umreißt. 

Damit endet die eigentliche Handlung des Buches. Es folgt ein abschließendes Kapitel mit der Überschrift „Glück“, das man etwas pointiert als die „Moral von der Geschicht’“ kennzeichnen könnte.  Erwartungsgemäß war Paul ein gutes halbes Jahr nach der Fahrt zum Mount Rushmore gestorben. Kurz vor Pauls Tod hatten Vater und Sohn auf kleinen Zettelchen darüber kommuniziert, was Glück sei. Die Antwort, die der Vater gab, enthielt nichts Weltbewegendes, auch wenn sie unbestreitbar richtig war: Glück ist die Abwesenheit von Leid und wird bewußt nur in besonderen seltenen Momenten – wie etwa am Mount Rushmore – erlebt. 

Der Schatten des Todes ist allgegenwärtig

Nach Pauls Tod versucht Frank, sich über die Bedeutung des Todes klarzuwerden. Daß der Tod unser „essenzielles Selbst“ hervorbringt, kann er nicht glauben, weil er bezweifelt, daß er überhaupt ein solches besitzt. „Falls der Tod etwas mitzuteilen hat, dann ist das eine Botschaft über das Leben; das wichtigste am Leben ist, daß es zu Ende geht, und wenn es soweit ist, werden wir, ob allein oder nicht, alle auf unsere eigene Weise sterben. Wie genau, das ist das kostbarste Geheimnis des Todes, das wohl niemals gelüftet werden dürfte.“ 

Auf den letzten Seiten des Romans entfaltet sich etwas unvermittelt eine Stimmung des universellen Einverstandenseins. Frank hatte kurz vor Pauls Tod seinen Frieden mit dem Sohn gemacht, nun lebt er Kalifornien in der Nachbarschaft einer platonischen Liebe und freut sich an jedem neuen Tag. Frank ist glücklich, in der Gegenwart, der einzigen Bühne, auf der das Glück erscheint und verschwindet.  

Am Ende der Lektüre bleibt trotzdem ein etwas zwiespältiges Fazit. Die Brillanz und die komposi-torische Geschlossenheit der ersten drei Bascombe-Romane erreicht „Valentinstag“ nicht ganz, was aber auch daran liegen mag, daß das Thema ernster ist. Die Fülle des Lebens ist vorüber, und der Schatten des Todes ist allgegenwärtig. Dem Tod in der Reife des Lebens mit Nächstenliebe und Selbstbescheidung zu begegnen, ist trotzdem der beste Rat, den ein Autor seinen Lesern geben kann – ganz abgesehen von dem Trost, den das Buch unabhängig von seinen literarischen Qualitäten bietet. Du bist also noch da, Frank, mag mancher Leser denken, der zusammen mit Frank Bascombe gealtert ist. Du hast es schwer, läßt aber den Kopf nicht hängen, genau wie ich. Du leidest an Krankheit, Verlust und Einsamkeit, aber du kommst zurecht, genau wie ich es versuche.

Richard Ford: Valentinstag. Roman. Hanser, Berlin 2023, gebunden, 384 Seiten, 28 Euro