© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/24 / 16. Februar 2024

Erinnerungskultur im Wandel
Gedenken: Die Erinnerung an deutsche Opfer alliierter Kriegshandlungen wird immer weiter relativiert
Claus-M. Wolfschlag

In Dresden hat sich eine Mahnstätten-Posse ereignet. Diese steht im Zusammenhang mit der seit Jahren stark ideologisch und gewaltsam geführten Auseinandersetzung um das richtige Gedenken an die Zerstörung der Stadt im Februar 1945. Zudem steht sie exemplarisch für aktuelle Entwicklungen der offiziellen bundesdeutschen Gedenkkultur.

In den 1960er Jahren errichtete das DDR-System auf dem Dresdner Heidefriedhof in Kooperation mit der kommunistischen Vereinigung der Opfer des Nationalsozialismus (VVN) eine der vielen Gedenkstätten für die „Opfer des Faschismus“. In diesem Rahmen entstand auch eine große Gedenkwand für die Toten des Bombenangriffs auf Dresden im Februar 1945. 2010 wurde die Gedenkstätte durch die privat finanzierte Skulptur „Trauerndes Mädchen am Tränenmeer“ ergänzt. Sinnbildhaft für die Verrohung des im Laufe der Jahrzehnte zunehmend eindimensionaler und primitiver werdenden Nachkriegs-„Antifaschismus“ war die 2021 erfolgte Besudelung der Gedenkstätte mit der Parole „Deutschland und Dresden – Keine Opfer, sondern Täter“.

Parallel zum Heidefriedhof wurde 2005 auf dem Altmarkt eine kleine Bodeninschrift in das Pflaster eingelassen, die auf die dort 6.865 verbrannten Menschen hinweist. Diese Gedenkplatte ist indes nur für diejenigen erkennbar, die intensiv danach den Boden absuchen. Ihr hinzu gesellte sich 2009 eine in den Stein einer nahe gelegenen Sitzbank gefräste Inschrift. Bereits auf dieser war eine Verschärfung des geschichtspolitischen Kurses erkennbar. Zur Erinnerung an die Opfer des Luftangriffs gesellte sich nun ein Hinweis auf die deutsche Schuld: „Damals kehrte der Schrecken des Krieges, von Deutschland aus in alle Welt getragen, auch in unsere Stadt zurück.“ Während die alliierte militärische Urheberschaft des Bombenangriffs nicht genannt wurde, wurde den Opfern nun auf abstrakte Weise kollektiv selbst die Schuld am eigenen Schicksal zuerteilt. Diese empathielose Klassifizierung der deutschen Toten als Opfer und Täter zugleich ist nur der erste Schritt zum konsequent weitergedachten „Keine Opfer, sondern Täter“ der „antifaschistischen“ Graffiti-Schmierer.

Mitte Januar kam es dennoch zu Aufregung bei geschichtsinteressierten Dresdnern, denn diese Gedenkinschrift wurde in einer Nacht- und Nebel-Aktion aus der Bank gefräst. Es wurde ein Sabotageakt vermutet, bis Baubürgermeister Stephan Kühn eine „schwerwiegende Kommunikationspanne“ eingestand. Bereits 2019 sei nämlich der Beschluß zur Umgestaltung der Gedenkstätte gefaßt worden, der nun – fast fünf Jahre später und ohne vorherige Information der Öffentlichkeit – umgesetzt wurde. Die Nutzung als Sitzbank und Beschädigungen durch Graffiti hatten seinerzeit einige Lokalpolitiker gestört. 

Nun wird dort nun eine Erklärstele errichtet, deren Text eine weitere gedenkpolitische Verschärfung beinhaltet. Auf der Stele findet sich neben der exakt festgelegten Zahl von „25.000 Menschen“, die durch den Bombenangriff gestorben seien, folgender Text: „Seit 1945 ist der 13. Februar einer der wichtigsten Gedenktage in der Landeshauptstadt Dresden. Seitdem wurde der Gedenktag wiederholt politisch instrumentalisiert und umgedeutet. Am 13. Februar wird der Opfer der Bombardierung infolge des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieges und der Millionen Toten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht. Dresden ist sich der historischen Verantwortung für diese Menschheitsverbrechen bewußt. Dieses Gedenken mahnt dazu, den Frieden in Europa und weltweit zu erhalten und zu fördern.“ 

Die verbrannten Dresdner Opfer erscheinen nun klein in ihrer Dimension, da sie in ein direktes Verhältnis zu Millionen NS-Opfern gesetzt werden. Die alliierten Bomber werden zudem durch die Verantwortungsübernahme der Stadt Dresden für die Schuld am Ausbruch des Weltkriegs und die gesamten Verbrechen der NS-Zeit entlastet. Während anderen politische Instrumentalisierung vorgeworfen wird, betreibt die Stadt mit einer solchen Inschrift selbst Instrumentalisierung.

Das Vorgehen folgt einem Trend. In Frankfurt am Main wurden auf dem Areal zwischen Rathaus und Dom 1978 eine bronzene Bodenplatte, die in einem längeren Text wertungsfrei ohne Nennung der allierten Urheber an die Zerstörung der Altstadt im Zweiten Weltkrieg erinnerte, und 2001 eine weitere Bodenplatte zur Erinnerung an die NS-Bücherverbrennung verlegt. Im Zuge der Neubebauung mit dem teilrekonstruierten Dom-Römer-Areal wurde die Platte von 1978 entfernt, und es dauerte seit Fertigstellung der Bauarbeiten 2018 fünf Jahre, bis die Platte nun wiederkehrte.

Die Leerstelle vor dem Fachwerkhaus „Goldene Waage“ war bewußt im Pflaster ausgespart worden, doch der linke Magistrat scheute sich ganz offensichtlich vor einer raschen Wiederanbringung. Schließlich fand man die Lösung in einer ringförmig um die Platte gelegten Zusatzinschrift. Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD) äußerte dazu: „Die Bodengedenkplatte ist gleichzeitig ein Zeugnis ihrer Zeit, sie dokumentiert die Erinnerungskultur der 1970er Jahre. Die alleinige Konzentration auf Kriegszerstörungen und die Opfer in Frankfurt ist aus heutiger Perspektive einseitig und verschweigt einen wichtigen Teil der Geschichte.“ Der Ergänzungstext lautet nun: „Von Deutschland ging seit September 1939 ein globaler Vernichtungskrieg aus. Alle Opfer dieses Krieges mahnen uns zu Frieden, Versöhnung und Demokratie.“ 

Der Begriff „Weltkrieg“ reicht offenbar nicht mehr aus, deshalb heißt es jetzt „globaler“ Krieg. Und da auch dies angesichts der vielen Kriege seit 1945, die längst wieder vor unserer Haustür gelandet sind, nicht mehr aufrüttelnd genug klingt, braucht es den Zusatz „Vernichtungskrieg“. Zwar haben im Zweiten Weltkrieg spezifische Einheiten der NS-Mordmaschinerie tatsächlich einen Vernichtungskrieg geführt, doch derartige Aussagen wie auf der Frankfurter Bodenplatte bieten Stoff für stark verkürzte Geschichtsnarrative. Denn es wird assoziiert, es wäre mit dem deutschen Angriff auf Polen bereits eine Ausweitung auf den kompletten Erdball beabsichtigt gewesen, und zwar in Form einer globalen Vernichtung. Die Gemengelage von Aktion und Reaktion, die verschiedenen machtpolitischen Absichten der internationalen Kräfte und die Eskalation von Konfliktsituationen wird in solch plumpen Erklärmodellen völlig außer acht gelassen. Die Opfer des Bombenkriegs in der Frankfurter Altstadt werden somit plötzlich ganz klein angesichts all der Opfer des Erdballs, zumal der Krieg nach diesem Gedankenkonstrukt ja offenbar auch irgendwie von ihnen selbst ausgegangen ist. 

Die verbale Aufladung von Gedenkinschriften hat zum einen damit zu tun, das zur Staatsräson versteinerte Schuld-Narrativ gegen alle Eventualitäten differenzierter Betrachtungsweisen aufzumauern. Sie ist zum anderen ein Indiz dafür, daß das offizielle historische Narrativ mittlerweile massiven Erosionen bei der nachwachsenden Generation ausgesetzt zu sein scheint.

Die jahrzehntelange Klage aus dem Milieu linksradikaler Publizistik, wonach Jugendliche zu wenig von der NS-Zeit wüßten, somit die Dosis der „Vergangenheitsbewältigung“ ständig hochgeschraubt werden sollte, scheint nun unter den neuen Realitäten der ethnisch-demographischen Veränderungen, der Pisa-Studien und der allgemeinen gesellschaftlichen Verwerfungen langsam Realität zu werden. Die ständige zum Ausdruck gebrachte Schuldbeflissenheit, der ohne differenzierte Betrachtung aufgeladene Schulunterricht, die Menge an Gedenkveranstaltungen mit gleichförmig klingenden Politikerreden, die Allgegenwart der Stolpersteine in bald jeder Gasse, führt inzwischen zu Abstumpfungsreaktionen in der Bevölkerung. Dies zudem bei einer Generation Handy, die täglich vielen schnellen Medienreizen ausgesetzt ist, welche deutlich attraktiver wirken, als sich zum x-ten Mal über NS-Verbrechen belehren zu lassen. Dieser Abstumpfung und zunehmenden Ignoranz – man denke an Selfies von am Berliner Holocaust-Mahnmal herumkletternden Jugendlichen – versucht die offizielle Gedenkkultur nun verzweifelt durch Aufrüstung mit verbal immer massiver transportierten Erklärungen entgegenzuarbeiten. KZ-Besuche mit der Schulklasse reichen schon längst nicht mehr aus.

Das Ignorieren differenzierter Forschungsarbeiten und die textliche Aufrüstung von Gedenkstätten sind zwei Seiten derselben Medaille. Beides dient dazu, die Erinnerung an die deutschen Opfer alliierter Kriegshandlungen zu relativieren, wenn sie nicht gar mittlerweile als moralisch unangemessen erscheint. Die Instrumentalisierung der bundesdeutschen Gedenkkultur soll vor allem innenpolitisch jene Kräfte moralisch legitimieren, die ihre Pfründe mit dem inszenierten „Kampf gegen Rechts“ abzusichern versuchen.

Folglich hat die Vergangenheitsbewältigung mit ihren Schwarz-Weiß-Schemata und ihrer von links akribisch betriebenen Gedenkstättenpolitik mitnichten zu dem Ergebnis geführt, Gräben zuzuschütten, Menschen einander näher zu bringen, Verständnis und Vergebung zu fördern. Die viel beschworene „Lehre aus der Geschichte“ soll allenfalls lauten, linken Gruppen und Parteien auf ihrem Weg zu folgen. Die Resultate kann man täglich in der primitiven Twitter-Haßblase, in allgegenwärigen pathologisch-hysterischen NS-Projektionen oder Antifa-Parolen wie „AfDler töten“ sehen. Eine Gesellschaft ohne Empathie, deren Geschichtserzählung vor allem der Verhinderung demokratischen Widerspruchs dienen soll, und die im Verblendungszusammenhang an der Zerstörung ihrer eigenen Grundlagen mitwirkt, wird mittel- oder langfristig nicht überleben. Die „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (Ernst Nolte), ist dabei, die Zukunft zu ersticken.