© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/24 / 16. Februar 2024

Fragwürdige Reform macht EU-Stabilitätspakt faktisch unwirksam
Schuldenkrise programmiert
Dirk Meyer

Am Wochenende schlossen die Vertreter des EU-Parlaments und der Mitgliedstaaten die seit 2020 laufende Reformdiskussion um neue EU-Schuldenregeln ab. Formal Bestand haben die Maastrichter Zielgrößen von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die jährliche Neuverschuldung und von 60 Prozent des BIP für die Gesamtschulden. Geschleift wurde der Fiskalpakt von 2012, der verlangte, bei einer Schuldenquote von über 60 Prozent jährlich ein Zwanzigstel der darüber liegenden Schulden abzubauen. Für Italien hätte dies bei Staatsschulden von 2,9 Billionen Euro und einer Schuldenquote von 143 Prozent für 2024 Einsparungen von 84 Milliarden Euro bedeutet – was völlig unrealistisch ist. Demgegenüber plant Italien neue Schulden im Umfang von 4,99 Prozent des BIP.

Um zukünftig Diskussionen mit den „sparsamen“ Staaten zu umgehen, bekommt die EU-Kommission jetzt weitgehend freie Hand: Es gibt keine allgemeinen, für jedes Land gleich anwendbaren Schuldenregeln mehr. Zwar existieren auf deutschen Druck weiterhin Referenzwerte. So sollen Länder mit einer Schuldenquote von über 90 Prozent ihre Schulden jährlich um einen Prozentpunkt senken, Länder zwischen 60 und 90 Prozent um 0,5 Prozentpunkte. Allerdings wird der Abbaupfad übermäßiger Schulden individualisiert. Er wird für vier bis sieben Jahre bilateral mit der Kommission ausgehandelt und soll sich an der mittelfristigen Schuldentragfähigkeit orientieren. Der Ausspruch des früheren Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker anläßlich einer Ausnahmegenehmigung – „weil es Frankreich ist“ – wird Programm. Der Sinn einheitlicher Fiskalregeln war, die Lücke der Euro-Währungsunion zu füllen, die zwar eine einheitliche Geldpolitik verfolgt, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik vorsieht. Diese sind nun Geschichte. Die EU-Kommission wird sich vermehrt an kurzfristigen Opportunitäten ausrichten. Mittelfristig werden die Mitgliedstaaten fiskalpolitisch weiter auseinanderdriften. Eine neue Euro-Staatsschuldenkrise wird dadurch wahrscheinlicher. 

Oder es werden EU-Schulden ähnlich denen aus dem 807 Milliarden Euro schweren Corona-Pandemie-Programm NextGenerationEU demnächst zur Regel? Sollte Deutschland jetzt auch in den Staatskredittopf greifen und seine sehr strenge nationale Schuldengrenze kippen?