© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 08/24 / 16. Februar 2024

Eine „Katastrophe“ für Europa
EU: Der Neue Pakt zu Migration und Asyl soll noch vor der EU-Wahl im Juni verabschiedet werden
Curd-Torsten Weick

Sehr geehrte Frau Chagnon, der Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration (GCM) wurde von der UN-Generalversammlung am 19. Dezember 2018 mit nur fünf Gegenstimmen angenommen. Wer hat eigentlich gegen ihn gestimmt und warum?

Patricia Chagnon: Im Jahr 2018 stimmten die Vereinten Nationen über den Marrakesch-Pakt ab. Nur fünf Länder haben dagegen gestimmt. Die Vereinigten Staaten, Israel, Ungarn, Polen und die Tschechische Republik beriefen sich auf ihr Recht auf nationale Souveränität in allen Aspekten der Migration.

War der GCM eine Erfolgsgeschichte?

Chagnon: Er war eine Katastrophe für ein Land wie Frankreich, in dem seither die Zahl der illegalen Migranten, die in unser Land kommen, explodiert ist.  

Seit September 2020 wird in Brüssel über einen neuen Migrationspakt (Neuer Pakt zu Migration und Asyl) diskutiert. Warum ist das so?

Chagnon: Nach der Migrationskrise von 2015 und den Protesten der Mitgliedstaaten gegen die Mängel der Dublin-Verordnung sah sich die EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson gezwungen, zu reagieren. Um die zunehmenden Beschwerden der Mitgliedstaaten zu beschwichtigen, mußte sie den Eindruck erwecken, daß sie sich deren Beschwerden zu Herzen nimmt und an Lösungen arbeiten wird. So stellte sie am 23. September 2020 den neuen Europäischen Pakt zu Migration und Asyl vor. Sie argumentierte, daß dieser Pakt die Mängel, die durch die Migrationskrise von 2015 aufgezeigt wurden, beheben und die illegale Einwanderung bekämpfen solle. Hinter dem Deckmantel der Worte sah die Realität jedoch ganz anders aus.

Warum hat es so lange gedauert? Erst im Dezember 2023 wurde der neue Migrationspakt vorgelegt.

Chagnon: Es war von Anfang an klar, daß der neue Migrationspakt in Wirklichkeit die Einwanderung fördern, eine wirksame Abschiebungspolitik verhindern, das Konzept der Familienzusammenführung und der Grundrechte ausweiten, die Mitgliedstaaten verpflichten würde, die Umsiedlung von Migranten in ihren Ländern zu akzeptieren, und die vollständige Übertragung der Migrationspolitik auf die EU abschließen würde.

EU-Kommissarin Ylva Johannson kündigte verstärkte Kontrollen, eine schnellere Bearbeitung von Asylanträgen an den Grenzen und verstärkte Abschiebungen an. Wird dies gelingen? Wo liegen die Schwierigkeiten?

Chagnon: Das Verfahren zur Überprüfung der Identität von Migranten und zur Bewertung eines etwaigen Sicherheitsrisikos bleibt besonders vage. Das ist natürlich besonders beunruhigend. Ich habe die Situation auf Lampedusa vor ein paar Monaten mit eigenen Augen gesehen. 8.000 Migranten kamen in weniger als drei Tagen auf der kleinen Insel an, und 48 Stunden später waren alle mit der Fähre auf das italienische Festland gebracht worden. Es gibt keine ernsthafte Registrierung der Migranten. Lampedusa ist Teil einer Seebrücke zwischen dem afrikanischen Kontinent und Europa, die illegale Migranten auf ihrer Reise unterstützt.

Welche Rolle spielt die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, Frontex, in diesem Zusammenhang?

Chagnon: Seitdem der französische Direktor Fabrice Legerri seinen Posten verlassen hat (oder nach Meinung mancher dazu gezwungen wurde), während er unter großem Druck stand und sich mit Vorwürfen von Fehlverhalten und illegalen Praktiken auseinandersetzen mußte, wurde Frontex, die ursprünglich geschaffen wurde, um die Mitgliedstaaten beim Schutz ihrer Grenzen zu unterstützen, von ihrer ursprünglichen Aufgabe, dem Schutz der EU-Außengrenzen, nahezu enteignet und in ein „Reisebüro“ für Migranten verwandelt.

Ein Mitgliedsstaat, der sich in einer Krise befindet, soll nach dem Pakt nun die Möglichkeit haben, Solidaritätsbeiträge von anderen EU-Ländern zu verlangen. Welche sind das? Wo liegen die Knackpunkte?

Chagnon: Mit dem Migrationspakt wird ein obligatorischer Solidaritätsmechanismus zwischen den Mitgliedstaaten eingeführt. Es wurde der Grundsatz der Umsiedlung eingeführt. Der Pakt sieht vor, daß mindestens 30.000 Umsiedlungen pro Jahr durchgeführt werden müssen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat zwar 266.940 Migranten und Flüchtlinge in zwölf Monaten in den südlichen Staaten Europas gezählt, aber diese Zahl wird eindeutig explodieren! Die bewußte Unterschätzung der Migrantenzahlen ist ein offensichtlicher Versuch, den Migrationsdruck auf Europa herunterzuspielen. Viel schlimmer aber ist die „Zwangssolidarität“, die eine klare Verletzung der Souveränität der Nationalstaaten darstellt.

Der Rat und das Parlament haben sich auch darauf geeinigt, die Eurodac-Datenbank für Fingerabdrücke zu erweitern. Dies soll es ermöglichen, besser gegen irreguläre Migrationsbewegungen vorzugehen und die Bewegungen von Asylbewerbern und Menschen in irregulären Situationen in der gesamten EU besser zu überwachen. Fazit: Mehr Befugnisse für Brüssel?

Chagnon: Unser Haupteinwand gegen diesen Text ist ein grundsätzlicher: Er überträgt der EU neue Befugnisse. Außerdem gibt es noch keine Einigung über die genauen Daten, die von den Gerichten, der Polizei und den nationalen Sicherheitsdiensten ausgetauscht und abgefragt werden können. Dies wird von der Kommission (wahrscheinlich Ylva Johansson) in künftigen technischen Leitlinien und delegierten Rechtsakten entschieden werden. Der Text besagt, daß Migranten, die im Verdacht stehen, ein Risiko für unsere Sicherheit darzustellen, in der Datenbank registriert und in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden können: Es besteht keine Verpflichtung, sie auszuweisen oder gar vorher in Haft zu nehmen.

Die neue Verordnung soll die Dublin-III-Verordnung und deren „Ersteinreiseprinzip“ ersetzen. Warum eigentlich?

Chagnon: Die Dublin-III-Verordnung überträgt die Verantwortung für die Bearbeitung von Asylanträgen auf das Land, in dem der illegale Migrant in der EU ankommt. Aus offensichtlichen Gründen bedeutet dies eine enorme Belastung für EU-Mitgliedstaaten mit Außengrenzen wie beispielsweise Italien. Anstatt Maßnahmen zu ergreifen, um illegale Einwanderer an der Ankunft in der EU zu hindern, beschloß Ylva Johansson, diese „Ersteinreiseländer“ wie Italien zu beschwichtigen, indem sie eine obligatorische „Umsiedlung“ von neu angekommenen illegalen Einwanderern erfand.

Im Fall einer Krise oder höherer Gewalt soll es den Mitgliedstaaten erlaubt sein, von bestimmten Regeln für Asyl- und Rückführungsverfahren abzuweichen.

Chagnon: Auch dies ist eine falsche Beruhigung, denn wenn Sie die Bestimmungen lesen, werden Sie feststellen, daß die Entscheidung, eine „Krise“ auszurufen, letztlich bei der Kommission liegt.

Das EU-Parlament wird dann im April, kurz vor den EU-Wahlen Anfang Juni, über den Pakt abstimmen. Ein fader Beigeschmack?

Chagnon: Es ist offensichtlich, daß Ursula von der Leyen und ihr migrationspolitisches Team diese Gesetzgebung noch vor den Europawahlen durchsetzen wollen. Sie weiß, daß Europa vor großen Veränderungen steht. Das Machtgleichgewicht wird sich verschieben, weil ein Großteil der Menschen in den EU-Mitgliedstaaten die Einwanderung stoppen will und ihre wahren Vertreter wählen wird.

Wie sieht der Zeitplan bis dahin aus?

Chagnon: Die verschiedenen Kapitel, aus denen sich der Migrationspakt zusammensetzt, müssen zunächst im zuständigen Ausschuß des Europäischen Parlaments, dem Ausschuß für Freiheit und Recht, abgestimmt werden. Nachdem der Ausschuß über die vorgeschlagenen Texte abgestimmt hat, werden sie im Plenum vorgestellt.

Wird es noch zu einem Aufstand kommen? Und vor allem, wer wird sich dem Pakt entgegenstellen?

Chagnon: Zusammen mit unseren Verbündeten im Europäischen Parlament werden wir nicht aufhören, diesen Pakt zu bekämpfen und alle uns zur Verfügung stehenden juristischen und institutionellen Mittel einsetzen. Aber liberal-konservative, liberale, grüne und linke Parteien werden eine Einigung finden, denn sie sind für die Einwanderung: die Linken aus ideologischen Gründen, die anderen wegen der billigen Arbeitskräfte. Die einzige Möglichkeit, die Umsetzung dieses katastrophalen Paktes zu verhindern, besteht darin, bei den Europawahlen zur Wahl zu gehen und dafür zu sorgen, daß sie abgewählt werden und wir hineingewählt werden!






Patrica Chagnon ist eine Politikerin des Rassemblement National und seit Juli 2022 Abgeordnete des EU-Parlaments. Dort ist sie unter anderem Mitglied im Ausschuß für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (Libe) und stellvertretende Vorsitzende im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten (Afet).