Was immer man vom Inhalt und der Aufmachung des Interviews des konservativen US-Fernsehmoderators Tucker Carlson mit Rußlands Präsidenten auch halten mag, für Carlson war es ein Meilenstein seiner Karriere und für Wladimir Putin überdies eine hervorragende Bühne zur positiven Selbstdarstellung.
Letztere benötigt Putin auch innerhalb Rußlands dringend. Der russische Einmarsch in der Ukraine ist nach zwei Jahren zum Stellungskrieg ausgewachsen, der nicht nur der Ukraine, sondern auch Rußland hohe finanzielle und menschliche Verluste aufbürdent. In Rußland stehen überdies Mitte März Präsidentschaftswahlen an. Putins Wiederwahl ist unzweifelhaft, doch möchte er mit einer nötigen hohen Prozentzahl wiedergewählt werden, bedarf es die sinkende russische Kriegseuphorie mit sichtbaren Erfolgen aufzufrischen. Einer der Bausteine Putins für diesen Sieg ist das Interview mit Tucker Carlson. Ein weiterer die derzeit tobende Schlacht um die Donezker Industriestadt Awdijiwka. Mit neuen Strategien und frischen Truppen forciert der russische Generalstab hier einen Häuserkampf, welchem sich die Ukrainischen Streitkräfte (ZSU) kaum mehr gewappnet sehen.
Rund 15 Kilometer von Donezk entfernt gelegen und seit 2014 umkämpft, ist Awdijiwka nunmehr ein reines Trümmerfeld. Kaum einer der einst dreißigtausend Einwohner lebt noch in der Stadt, die Neubau- und Industrieblöcke sind von Granaten zerschossen. Der Vergleich mit ukrainischen Städten wie Mariupol und Bachmut drängt sich förmlich auf. Inzwischen droht der russische Belagerungsring die letzten Zufahrtswege zur Stadt komplett abzuschneiden. „Der Feind drängt aus allen Richtungen“, erklärt Vitaly Barabash, einer der in Awdijiwka stationierten Offiziere, der ukrainischen Tageszeitung Kyiv Post. „Es gibt keinen einzigen Teil unserer Stadt, der mehr oder weniger ruhig ist.“ Laut Angaben der ZSU befinden sich bereits mehr als 42.000 russische Soldaten im Umfeld Awdijiwkas und warten auf ihren Einsatz zur Erstürmung.
Per Mobilisierungswelle in die Offensive gehen
Als erste Reaktion ernannte Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj den Generaloberst Oleksandr Syrskyj zum Nachfolger des bisherigen Kommandeurs Walerij Saluschnyj. Syrskyj hatte sich als Hardliner bei der Verteidigung Bachmuts bereits einen Namen gemacht und gilt „als Mann, der bereit ist, unter seinen Soldaten hohe Verluste hinzunehmen“, wie der US-Nachrichtensender CNN berichtet. Seine Nominierung legt nahe, daß Kiew erneut bereit ist, eine belagerte Stadt bis zum Äußersten zu verteidigen. Saluschnyjs Demission dürfte hingegen noch einen weiteren Grund haben: Der Ex-Kommandeur plädierte mehrfach für eine – auch in der Ukraine unpopuläre – weitere Mobilisierungswelle von bis zu 500.000 neuen Rekruten.
Ein entsprechender Gesetzesentwurf scheiterte im Januar im ukrainischen Parlament nicht nur an ethischen Zweifeln, auch leicht behinderte Menschen zum Kriegsdienst einzuziehen, sondern vor allem an der Kostenfrage. „Diese Mobilisierung würde die Ukraine weitere 500 Milliarden Hrywnja (ca. 12 Milliarden Euro) kosten“, mahnte Selenskyj bereits im Dezember 2023, „und ich würde gerne wissen, woher das Geld kommen soll.“ Laut Selenskyj bedürfe es die Steuern von „sechs arbeitenden ukrainischen Zivilisten, um das Gehalt eines Soldaten zu bezahlen“; wer aus seinem Land flüchte und keine Steuern zahle, so der ukrainische Präsident, stünde vor einem „ethischen Dilemma“.
Mit der Ernennung Syrskyjs erhofft Selenskyj somit, nicht nur die Belagerung Awdijiwkas zu durchbrechen, sondern auch den ukrainischen Teufelskreis von Flucht und Arbeitskraftverlust, welcher sich mit jedem neuen russischen Vorstoß schneller dreht.
Vor diesem Hintergrund und der Unsicherheit der US-Finanzierung der Militärhilfe wird Präsident Selenskyj nach Angaben des Nachrichtendienstes Bloomberg „möglicherweise“ bald mehrere westeuropäische Hauptstädte besuchen, um sie zu einer Aufstockung ihrer Hilfe für die Ukraine zu „drängen“.